Der andere Papa
Letztens erzählte uns ein befreundeter Papa folgende Begebenheit im Kindergarten seines jüngsten Kindes.
Der Vater holte seinen Sohn im Kindergarten ab. Ein Mädchen näherte sich ihm und fragte:“Wer bist du?“ Darauf der Vater: „Ich bin der Papa von Paul[i].“ Das Mädchen sagte darauf hin. „Der Papa von Paul ist doch der große dicke Mann.“ Pauls Papa antwortete: „Ich bin der andere Papa.“ Das Mädchen stürmte darauf hin zu Paul und rief: „Dein anderer Papa ist da“. Seit dem ist im Kindergarten klar: Paul hat einen Papa und einen anderen Papa. So einfach ist das.
Ich finde diese Anekdote so toll, weil sie deutlich macht, dass die Kinder die Dinge so nehmen wie sie sind. Paul hat eben zwei Papas. Punkt. Mehr muss dazu gar nicht gesagt werden. An dieser Stelle würde jedes Thematisieren der Familiensituation von Paul über das Ziel hinausschießen.
In Bilderbüchern zum Thema Regenbogenfamilien findet sich leider all zu oft noch dieses Problematisieren anstelle eines einfachen gleichwertigen Darstellens. So in dem Buch “Ina und der verschwunden Wurm”.[ii] Hier hat ein Mädchen, das mit zwei Mamas lebt, einen Regenwurm verloren und sucht ihn im ganzen Haus bei den anderen Mietern. Doch irgendwann kommen zwei Seiten, in denen die vermeidlich besondere Lebenssituation von Ina problematisiert wird. Wohlgemerkt – es handelt sich um ein Bilderbuch – also für die Altersgruppe der 2-5 jährigen.
Eine löbliche Ausnahme bildet da das Buch „König und König[iii]“. In diesem soll ein junger Prinz heiraten. Am Ende der Brautschau verliebt er sich in einen anderen Prinzen, heiratet diesen und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Für Kinder ist ja erst mal alles was sie sehen, erleben etc. normal, bzw. alles ist Neu und alles ist Möglich. Dass es einen Nikolaus gibt, der einmal im Jahr Geschenke bringt wird genauso selbstverständlich angenommen, wie die Nachbarn, die ein Kamel im Garten haben oder das Mädchen mit den zwei Papas. Die Zeit des Problematisierens oder besser des weiteren Besprechens kommt erst, wenn die Kinder fragen. Und dann wie bei allen anderen Themen auch auf kindlichem Niveau mit kurzen Erklärungen.
Auf die Frage warum Paul zwei Papas hat, können sie folgendermaßen reagieren: „Weißt du, es gibt eben Menschen die sind anders. Also meist ist es so, dass ein Mann und eine Frau, sich kennen lernen. Oder nein lass es mich anders erklären, also bei den Bienen ist es so….. Gähn – das Kind ist schon längst über alle Berge, ohne eine Antwort erhalten zu haben.
Erstmal würde ja folgende Erklärung reichen: „Einige Kinder haben zwei Papas oder Mamas. Andere haben nur eine Mama und andere eine Mama und einen Papa.“ Und wenn dann noch Nachfragen kommen, kann man ja weiter reden, etwa wer gehört noch zur Familie, wie ist es bei dir, wie ist es bei Anna…
Vignette: Selbstwirksamkeit
Beobachtung auf dem Spielplatz
Ein kleines Mädchen, ca 2 Jahre, steht neben einem Spielgerät auf dem Spielplatz und … nichts, das Mädchen tut nichts, es versucht nicht auf das Gerät zu klettern. Schaut das Gerät an und tut nichts. Irgendwann kommt der Vater und hebt das Kind auf das Gerät. Das Kind schaukelt ein bisschen und möchte dann gelangweilt wieder runter.
Kurz vorher hat sich ein anderes etwa gleichgrosses Kind gut 15 Minuten abgemüht und sass dann irgendwann freudestrahlend auf dem Spielgerät, spielt glücklich und klettert dann wieder runter.
Gedanken dazu:
Wie oft hat wohl das erste Kind schon die Erfahrung gemacht, dass sie etwas nicht durfte, dass sie nicht ausprobieren durfte. Was muss alles in einem kleinen Leben passiert sein, damit eine 2 Jährige es schon aufgegeben hat, zu versuchen. Dabei ist das Ausprobieren, das Versuchen und auch das Scheitern in dieser Lebensphase doch das, was Kinder aus sich heraus tun.
Und das andere Kind: Die Emsigkeit der Versuche, das Ausprobieren, das Scheitern, es hat immerhin 15 Minuten gedauert bis es geklappt hat, die Ausdauer und dann die Freude in dem Gesicht, das „Ich habe es geschafft“.
Welch wunderbare Lernerfahrung. Ausprobieren, sich anstrengen und noch und nochmal probieren und dann der Stolz etwas selber geschafft zu haben. Neben der Körperbeherrschung, der trainierten Geschicklichkeit und so machen Erkenntnissen über die Schwerkraft, ist diese Selbstwirksamkeitserfahrung für die kindliche Entwicklung so wichtig.
Wie oft greife ich selber ein? Wie oft lasse ich zu? Lasse ausprobieren? Wie oft musste, ich mich schon zurückhalten um nicht zu helfen, wenn meine Hilfe noch gar nicht gefragt wurde. In den Weiterbildungen und Supervisionen sage ich oft, dass die Erwachsenen sich mehr zurückhalten müssen, mehr da sein, mehr beobachten aber weniger eingreifen, die Kinder ihre Erfahrungen machen lassen. Das ist gar nicht so einfach, weil wir ja helfen wollen, und nützlich sein wollen. Oder ist es noch wichtiger das Gefühl zu haben, gebraucht zu werden. Mich wichtig fühlen… Wie gut, dass die meisten Kinder uns da immer wieder mit einem entschiedenen ALLEIN darauf aufmerksam machen, um was es geht.
Gut vorbereitet
In Supervisionen von Kinderbetreuungseinrichtungen begegnet mir immer wieder, dass die Mitarbeitenden mir sagen, dass sie die Kinder vorbereiten wollen. Die Crèches bereiten die Kinder auf den Précoce vor. So wird mit 2 Jährigen das Zählen geübt. 1-2-3 das soll jedes Kind auf Wunsch zählen können. Dann im Précoce wird auf die Vorschule vorbereitet, welche die Kinder wiederum auf die Grundschule vorbereitet. Eltern bringen ihre Kinder auch in Kinderbetreuungseinrichtungen, damit sie schon mal lernen ruhig zu sitzen und sich an Regeln zu halten, damit sie gut vorbereitet für die Schule sind.
LehrerInnen der Sekundarschulen wünschen sich, dass die Kinder besser auf das Lyceeum vorbereitet wären und Universitäten sowie Arbeitswelt sagen: „Die Kinder seien schlecht bzw. nicht vorbereitet auf den neuen Abschnitt“.
Wenn ein Kind nun trotz all diese Vorbereitungen dennoch erwachsen wurde, eine Ausbildung absolviert hat und eine Arbeit gefunden hat, dann haben sie diesen Vorbereitungswahn verinnerlicht. Nun bereitet ein jeder seine Karriere oder den nächsten Karriereschritt vor. Und so ab Anfang 50 gilt es dann den wohlverdienten Ruhestand vorzubereiten. Dort angekommen muss man sich aber schon auf ein eventuelles Alten- und Pflegeheim vorbereiten. Um dort – sie ahnen es – das eigene Ableben gut vorzubereiten. Dann erst ist endlich Schluss mit der Vorbereiterei.
Sind Sie also gut vorberietet? Sie können nicht früh genug anfangen und es gibt immer etwas vorzubereiten. Ist das nicht ein Leben in der gutvorbereiteten Zukunft anstatt im Hier und Jetzt mit den Zufällen des Alltags.
Egal, ich jedenfalls muss mich jetzt vorbereiten und zwar werde ich einen Kurs ausarbeiten: Gut vorbereitet in 5 Schritten! 🙂
“In unserer Familie tun wir uns nicht weh !?”
Kein Verhalten unserer Kinder bringt mich (Susanne) so an meine Grenzen, wie ihr aggressives – mit dem sie uns, wie alle Kinder ihre Eltern, konfrontieren. Die Herausforderungen für mich sind vielschichtig:
- Die Wut, den Ärger, die innere Anspannung, den Frust des Kindes das haut, schubst, wegnimmt … zuallererst wahrnehmen, da sein lassen und anerkennen (und nicht sofort „Das darfst du nicht.“ , „Wenn du das tust, dann …“ etc. sagen).
- Nicht meinerseits aggressiv sondern einfühlsam und v.a. liebevoll reagieren (in der tiefen Überzeugung, dass jedes Verhalten einen Sinn macht, wenn man den inneren oder äußeren Kontext eines Menschen kennt – nach der Indianerweisheit „Urteile nicht über einen Menschen, wenn du nicht einen Tag in seinen Schuhen gelaufen bist“).
- Gleichzeitig meine Wut, meinen Stress, meinen „Film“ .. wahrnehmen, anerkennen und regulieren.
- Gerne meinen Ärger, mein Genervt-sein, Gestresst-sein den Kindern gegenüber zum Ausdruck bringen, aber ohne ihre persönliche Integrität zu verletzen.
- Meine persönlichen Grenzen deutlich machen, ohne die Grenzen des Kindes zu verletzen.
- Mich nicht abwenden (mein Muster wenn ich mich ärgere ist, den Kontakt abzubrechen), sondern im Kontakt mit dem Kind bleiben.
- Auf der Seite unserer Kindern stehen, wenn sie etwas tun, was andere missbilligen; mich nicht für das Verhalten unserer Kinder schämen (bzw. meine Scham wahrnehmen und anerkennen, ohne ihr die Macht zu geben, handlungsleitend zu werden). Wenn sich andere Erwachsene über das aggressive Verhalten eines unserer Kinder aufregen ist es mir schon einige Male passiert, dass ich mich auf die Seite des anderen Erwachsenen gestellt habe, weil es mir wichtig war, von dem gemocht zu werden – selbst wenn er mir wildfremd war. Das finde ich jedes Mal ganz furchtbar.
- Mir eingestehen, dass ich zu denen gehöre, die – vor allem in der Öffentlichkeit – gerne liebe, gut angepasste und folgsame Kinder möchten. Jesper Juul sagt, von denen, die dem alten Erziehungsparadigma anhängen, gibt es noch viele. Sie wollen dieses Ziel nur in einer sanfteren Art erreichen. – Ich gehöre dazu. Noch … .
- Mich um die Weiterentwicklung meines Umgangs mit meinen aggressiven Gefühlen unabhängig von unseren Kindern kümmern.
- Mich von meiner inneren Überzeugung verabschieden, dass nur eine harmonische, friedliche und entspannte Familienatmosphäre eine gelungene ist.
Die Liste ist lang und ich übe mich in der Kunst des Scheiterns, die allein dem Gelingen vorangeht … .
So mancher Leser wird jetzt denken, wir hätten kleine Monster. Haben wir nicht. Wir haben liebenswerte, freundliche und soziale Kinder, die sich manchmal aggressiv verhalten. Das Monster ist in mir – und – das tröstet mich etwas – in unserer Gesellschaft. Aggression erschreckt uns, macht uns Angst, wir wollen sie nicht haben. Für den dänischen Familientherapeuten und Erziehungsexperten (besser: Beziehungsexperten) Jesper Juul ist „Aggression … unerwünscht, in unserer Gesellschaft und vor allem bei unseren Kindern“. Auf der Suche nach Hilfe und Inspiration bin ich auf sein aktuelles Buch „Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist“ gestoßen. Der Spiegel titulierte Juul als „Lichtgestalt der modernen Pädagogik“. Das ist er für mich tatsächlich auch, weil er es oft schafft, bestehende Grenzen des Denkens zu überschreiten und Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen. Andere Ratgeber / Fachartikel die ich gelesen habe, kommen z.B. beim Thema “Aggressives Verhalten von Kindern” immer letztlich darauf zurück, dass Kinder klare Regeln, Grenzen und Konsequenzen brauchen. Das hat mich noch nie überzeugt – bis auf die Tatsache, die auch Jesper Juul anerkennt, dass natürlich jede soziale Gemeinschaft eine Handvoll Regeln braucht, damit es allen gut gehen kann.
Im folgenden also ein kleiner Artikel über aggressives Verhalten von Kindern und unseren Umgang damit. Ich gebe gleichzeitig damit einen Ausblick auf das genannte Buch von Jesper Juul.
Eine Szene auf dem Spielplatz: Ein ca. 4 jähriger Junge sitzt im Sandkasten und schaufelt engagiert mit seinem Bagger ein Loch. Unweit von ihm sitzt eine ca. Einjährige. Der Bagger hat ihr Interesse geweckt und sie greift nach der Baggerschaufel. Der Junge schiebt ihre Hand weg. Die Kleine greift erneut nach der Baggerschaufel – deutlich genervter schiebt der Junge ihre Hand erneut weg. Mit der Beharrlichkeit, die kleine Kinder auszeichnet, wenn sie etwas erkunden möchten, greift das Mädchen nochmal nach der Baggerschaufel. Der Junge nimmt die Plastikschaufel, die neben ihm liegt und haut sie der Kleinen auf den Kopf.
Die eben noch friedliche und entspannte Sandkastenatmosphäre hat ein jähes Ende. Und das weniger, weil die Kleine weint. Die Stimmung der Erwachsenen, die um den Sandkasten sitzen, hat sich jäh geändert – alle richten ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen und das Mädchen. Die Atmosphäre ist voller Spannung. Alle Erwachsenen haben – wenn auch unterschiedliche – doch starke Gefühle in Bezug auf den „Vorfall“. Die Mutter des Mädchens ist erschrocken und empört. Die Mutter des Jungens ist aufgewühlt. Sie ärgert sich über das Verhalten ihres Kindes. Sie schämt sich und fühlt sich auch etwas schuldig, weil sie nicht gut genug aufgepasst hat. Die übrigen Erwachsenen sind entweder mit der Mutter des „Opfers“ oder mit der Mutter des „Täters“ identifiziert und erleben entsprechende Gefühle.
Der jähe Atmosphärenwechsel ist Kennzeichen dafür: Hier wurde ein Tabu gebrochen! Es gab auf diesem Spielplatz eine stillschweigend praktizierte Regel, eine kulturell überformte Übereinkunft, dass aggressives Verhalten strikt verboten ist. Auf einem Spielplatz darf vieles passieren – nur das nicht. Die Kinder – auch der „Übeltäter“ – spielen unbekümmert weiter.
„Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert“, so Jesper Juul. Kinder, die hauen, schubsen, beißen … werden kritisiert, zurechtgewiesen, herabgesetzt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.
Im Elternhaus: „In unserer Familie tun wir uns nicht weh“ (implizite Botschaft: wenn Du mich oder Deine Schwester haust, gehörst Du nicht mehr zu unserer Familie).
In der Krippe: Ein zweieinhalbjähriges Mädchen hat eine Gleichaltrige in einer Woche zweimal gebissen. Die Mutter des „Opfers“ hat sich beschwert. Das Mädchen, das sich wiederholt aggressiv verhalten hat, soll nun einer Psychologin vorgestellt werden. (Beispiel von Jesper Juul aus seiner Beratungspraxis).
In der Kita: „Wir hauen nicht!“. Wer haut oder schubst, wird zurechtgewiesen und muss ein paar Minuten „sitzen“.
Auf dem Spielplatz: „Wenn Du anderen Kindern weh tust, dann gehen wir sofort nach Hause“.
„Ja, aber Gewalt kann man doch nicht einfach dulden.“ „ Kinder müssen doch lernen, dass sie anderen nicht weh tun dürfen.“ „Die anderen Kinder müssen doch geschützt werden“ – so oder ähnlich, werden jetzt viele denken oder sagen.
Wo ist das Problem? „Gegen die Auffassung, dass wir in unseren Familien, Institutionen und unserer Gesellschaft so wenig destruktive Aggression wie möglich antreffen wollen, habe ich nichts einzuwenden“, so Jesper Juul. „Allerdings müssen wir anerkennen, dass aggressive Gefühle … im Reifungsprozess eines Kindes … immer in einer destruktiven oder selbstdestruktiven Form ausgedrückt werden.“ Kinder können ihre Frustration nicht auf einem intellektuellen Niveau ausdrücken. D.h. sie können ihre innere Spannung z.B. nicht in sprachlicher Form ausdrücken. V.a. kleineren Kindern fehlt die Möglichkeit, sich über Gedanken und Gefühle zu äußern. Aber auch ältere Kinder können auf diese Fähigkeit nicht mehr zurückgreifen, wenn sie stark erregt sind. Starke Erregung setzt zwar physische Kräfte frei, beeinträchtigt aber komplexe Denkprozesse.
Das bedeutet: Wenn wir Kindern den destruktiven Ausdruck ihrer Frustration verbieten, verbieten wir ihnen, ihre Frustration, ihren Ärger, ihre Wut auszudrücken! Und dieser Punkt ist wirklich wichtig. Viele Kinder lernen früh, ihre Frustration, ihren Ärger und ihre Wut zu unterdrücken. Eltern und Erzieherinnen sind froh mit lieben, umgänglichen und gut angepassten Kindern.
Der Preis, den die Kinder dafür zahlen ist hoch:
Ein gesundes Selbstwertgefühl basiert auf einem besonnenen, nuancenreichen und bejahenden Selbstbild – ein Selbstbild, in dem das gesamte Spektrum inneren Erlebens sein darf. Ich bin all meine Gefühle, all meine Gedanken, all meine Körperempfindungen und all meine Handlungsimpulse. Für Jesper Juul ist dies der Schlüssel zu geistiger und seelischer Gesundheit. Wenn wir aggressivem Verhalten von Kindern moralisierend begegnen bzw. sie negativ oder kritisch zurechtweisen, dann lernt ein Kind: Meine Wut, mein Ärger, meine Frustration sind nicht o.k. . Es hat keine Chance, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.
„Kinder kommen unschuldig zu ihrem Verhalten“, so Jesper Juul. „Überhäuft man ihr Dasein mit moralischer Schuld und Schuldgefühlen, ist das für ihre geistige Gesundheit und die Entwicklung einer echten sozialen Kompetenz schädlich. Und wenn Erwachsene nichts dazu lernen und beharrlich bleiben, wird ihr Verhalten später von Schuld und Schuldgefühlen geprägt sein.“ Wer kennt sie nicht, die unzähligen Erwachsenen, v.a. Frauen, die sich permanent schuldig und schlecht fühlen, wenn sie versuchen, ihre persönlichen Bedürfnisse und Grenzen zu vertreten oder ihre Ziele zu verfolgen (Aggression ist viel mehr als wütend sein – ohne Aggression sind wir nicht imstande Träume zu verwirklichen, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen, unsere Grenzen zu bestimmen, unsere Kinder zu beschützen … .)
Wer viel Angst, Schuld und Scham erlebt, neigt viel mehr zu destruktivem und selbstdestruktivem Verhalten als Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl. Mit unseren Bemühungen erreichen wir also leicht das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigt haben.
Was ist Not-wendig? Jesper Juul plädiert für ein radikales Umdenken: Es ist normal, wenn Kinder hauen, schubsen, kratzen, beißen … was nicht bedeutet, dass wir das immer zulassen sollen, wenn wir dabei sind. Auf keinen Fall dürfen wir ihr Verhalten jedoch als „schlecht“ bewerten.
Wie lange ist es denn normal, d.h. ab wann sollten Kinder in der Lage sein, die impulsive Aggression in kreatives und konstruktives Verhalten zu verwandeln? Jesper Juul hierzu: „Ein durchschnittliches Kind, das in einem sicheren und fürsorglichen Umfeld aufwächst, braucht eine ganze Kindheit experimentellen Lernens, um alle seine aggressiven Gefühle zu integrieren, die destruktiven unter Kontrolle zu bekommen und sie von den konstruktiven zu unterscheiden. Wer diese natürliche Entwicklung beschleunigen will, gefährdet die geistige Gesundheit des Kindes und landet womöglich beim Gegenteil von dem, was er ursprünglich durch seine Intervention beabsichtigt hat.”
Es gibt auch Kinder, die sich vor dem Hintergrund erlebter Vernachlässigung und Gewalt aggressiv verhalten. Sie schlagen, schubsen, beißen … oft ohne Ankündigung oder von außen sichtbarem Anlass. Sie brauchen erst recht liebevolle und empathische Begleitung ohne Verurteilung ihres Verhaltens. Jesper Juul nennt in diesem Zusammenhang fünf konstruktive Qualitäten, die im Leben eines aggressiven Kindes Früchte tragen werden: Dialog, Interesse, Neugierde, Anerkennung und persönliches Feedback. Eine Konzentration auf das Symptom bringt nichts. Juul rät: Sprich möglichst wenig über das aggressive Verhalten des Kindes!“
O.k., wir haben radikal umgedacht – wie sieht nun der radikal andere Umgang mit kindlicher Aggression in der Praxis aus? Da ich selbst am meisten von Beispielen lerne, möchte ich einfach ein paar skizzieren. Vielleicht inspiriert Sie das – in welchem Kontext auch immer Sie mit Kindern leben oder arbeiten.
Situation: Ein zwei Jahre altes Kind klettert auf das Trampolin, auf dem sich bereits der große Bruder befindet. Die Regel ist, dass immer nur ein Kind auf dem Trampolin sein darf. Die Mutter begrenzt das Kind und hält es zurück. Das Kind ist frustriert und schlägt nach der Mutter. Einfühlung in das Kind: „Jetzt auf dem Trampolin toben mit meinem großer Bruder. Die Vorfreude breitet sich in mir aus, fühlt sich jetzt schon toll an … . Da hält mich jemand zurück. Ich kann nicht weiter. Was für eine Wut, die da kommt.“ Mögliche Reaktion: „Stop! Ich will nicht, dass Du mich schlägst. Du bist wütend, weil ich dich nicht aufs Trampolin lasse.“ Der Antwort / Reaktion des Kindes Raum lassen, dann dem Kind eine alternative Form des Aggressionsausdruckes anbieten, z.B. wütendes Gesicht machen mit entsprechendem stimmlichen Ausdruck und/oder auf ein Kissen schlagen, mit dem Fuß aufstampfen … . Was lernt das Kind? 1. Das ist meine Mutter und das ist eine ihrer wichtigen Grenzen. 2. Es ist o.k. wütend zu sein. 3. Es gibt Formen, meine Wut auszudrücken, die für meine Mutter o.k. sind.
Situation: Ein dreijähriger Junge schlägt seine Schwester, die noch ein Baby ist, mit seinem neuen großen Spielzeuglaster, nur weil sie versucht hat, ihn dem Jungen wegzunehmen oder er den Eindruck hatte, dass sie sich in sein Spiel einmischen möchte. Einfühlung in den Jungen: „Meine Schwester will mir meinen neuen Laster wegnehmen. Der ist mir ganz wichtig. Ich fühle mich bedroht.“ Oder „ Ich will ungestört spielen. Es nervt mich, dass sie nach meinen Sachen greift. Ich fühle mich im Verfolgen meiner Ideen und Ziele bedroht“. Wenn jemand in dein Haus eingebrochen ist und dir dein Fahrrad geklaut hat, weißt du genau, wie sich der Junge fühlt und warum er aggressiv reagiert. Wenn du konzentriert am Laptop arbeitest und jemand dauernd irgendwelche Tasten drückt, auch. Mögliche Reaktion: „Stop! Ich möchte nicht, dass du deine Schwester schlägst , aber ich verstehe, weshalb du so aufgebracht bist. Ich werde dir beibringen, wie du es anstellen kannst, dass dich deine Schwester respektiert. Aber sie ist noch sehr klein, und es könnte noch eine Weile dauern, bis sie uns versteht.“ Was lernt der Junge?: 1. Man kann Grenzen setzen, ohne aggressiv und gewalttätig zu werden. 2. Meine persönliche Integrität wird anerkannt. 3. Meine Mutter teilt eine Weisheit mit mir, die mich spüren lässt, dass ich wertvoll und schon ganz schön groß bin. 4. In der Zukunft werde ich etwas neu können und meine Schwester wird etwas neu und anders können.
Situation: Im Kindergarten. Ein fünfjähriges Mädchen, das in der Vergangenheit Vernachlässigung und Gewalt erlebt hat, fällt allgemein durch aggressives Verhalten auf. Jetzt gerade im Garten: Ein Kind ist gestolpert und hingefallen. Das Mädchen beobachtet dies und fährt mit seinem Laufrad gezielt in das auf dem Boden liegende Kind. Einfühlung in das Mädchen: „Mir geht es nicht gut und ich finde keinen anderen Weg, das zu zeigen, als etwas zu machen von dem ich weiß, dass ich es nicht darf“. Oder: „Ich zeige euch mit meinem Verhalten, was ich oft erlebt habe. Früher, als ich noch klein war, haben Menschen oft und für mich aus heiterem Himmel meine persönlichen Grenzen verletzt.“ Oder: Ich verhalte mich so, dass die anderen mich ablehnen, dass die anderen Kinder z.B. nicht mehr mit mir spielen wollen. Damit stelle ich einen Zustand her, der mir von früher sehr vertraut ist: Einsamkeit. So war es früher für mich: Ich wollte dazugehören, in Verbindung mit anderen Menschen sein, aber es ging nicht. Mögliche Reaktion: Nach Jesper Juul muss die Erzieherin hier zwei Dinge wissen, um für das Kind hilfreich reagieren zu können: 1. Das Verhalten des Mädchens ist nur ein Symptom, und über Symptome zu sprechen ist im Allgemeinen pure Verschwendung von Energie und Zeit. Das Kind weiß bereits, dass du sein Verhalten für problematisch hältst, und wird sich das wahrscheinlich auch merken. Jedes menschliche Wesen ist aber sehr viel mehr als sein „Problem“ oder seine „Unfähigkeit“, und darauf solltest du deine Aufmerksamkeit richten. 2. Das Ziel eurer Dialoge ist nicht, sein Verhalten zu ändern, sondern eine solide Beziehung aufzubauen. Ist deine Anwesenheit durch dein Programm vergiftet, wird das jedes sensible Kind spüren und sich als Objekt deiner Manipulation betrachten. Sei geduldig und versichert: Je besser deine Beziehung zu dem Mädchen ist, desto schneller wird sich sein Verhalten ändern. Als hilfreiche Reaktion empfiehlt Juul: Wenn das Mädchen sich in Bezug auf andere Kinder aggressiv verhält, geh zu ihm hin, leg ihm die Hand auf die Schulter oder auf den Kopf und frag, ob es Hilfe braucht. Seine Antwort ist nicht sonderlich wichtig. Was lernt das Mädchen? 1. Ich bin wertvoll für die Erzieherin. 2. Die Erzieherin versteht mein Verhalten als Hilfeschrei.
Diese Beispiele sollen eine Idee davon vermitteln, wie wir für die Kinder hilfreicher und fairer im Umgang mit ihrem aggressiven Verhalten sein können. Ich denke, wir befinden uns erst am Anfang eines neuen Weges – für weiterführende Rückmeldungen, Anregungen, Literaturtipps etc. sind wir dankbar!
Abschließend noch ein Blick auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext:
V.a. Mädchen wurden dazu erzogen, ihre aggressiven Impulse zugunsten von Harmonie zu unterdrücken. Gleichzeitig galt es lange als unschicklich, unreif, lächerlich …, überhaupt Gefühle zu zeigen. Jesper Juul beschreibt, dass Frauen über Generationen in ihre Schranken verwiesen wurden, “wenn sie mehr als zwei Emotionen gleichzeitig ausdrückten”. “Durch die Psychiatrie, die sie … als Hysterikerinnen oder irrationale Wesen abstempelte; durch die Ehemänner, die sie in die Küche schickten, um sich dort abzureagieren, wenn sie denn nicht auf eine zivilisierte Art sprechen können.” Jesper Juul weiter: “Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen – Enkelinnen und Großenkelinnen dieser unglücklichen Frauen – tun heute dasselbe mit den Kindern, die man ihnen anvertraut hat: Sie lehnen deren aggressiven Ausbrüche ab und nehmen sie nicht ernst; sie erwarten, dass vierjährige Kinder in der Lage sein sollen, ihre Frustration auf einem intellektuellen Niveau auszudrücken. ” Juul nennt hierzu eine brandaktuelle dänische Studie (2012), in der zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialwissenschaften Kindergartenkinder ihre eigene Meinung sagen durften. Diese Studie zeigt, dass 24% der Jungen sich im Kindergarten nicht besonders wohl fühlen. Dieser Prozentsatz wurde von den Erzieherinnen (meist Frauen) bestätigt: 22% der Jungen seien “Problemkinder”, weil sie ihren Ärger und ihren Frust “ausleben” würden. Eine Anmerkung an dieser Stelle: Auch Männer haben in der Geschichte nicht die Bedingungen vorgefunden, die sie gebraucht hätten, um einen guten Umgang mit ihren aggressiven Gefühlen entwickeln zu können.
Gesellschaftlich geht es Jesper Juul darum, nicht nur die wahren Wurzeln von Wut, Zorn, Gewalt und Hass zu erklären, sondern sich zu bemühen “Wege zu finden, um in Familien, Kindergärten und auf den Straßen unserer Städte mit starken Gefühlen umgehen zu lernen”. In diesem Zusammenhang nennt er die “Tendenz, jede bedeutsame Emotion in unseren Familienhäusern und Tagesstätten unwillkommen zu heißen, ausgenommen das Glücklichsein”. In der Kita unseres Sohnes hatte eine Erzieherin persönlichen Kummer. Es hat mich sehr beeindruckt und war für mich ein Zeichen ihrer persönlichen Stärke, dass sie damit im Team und auch zum Teil im Kontakt mit uns Eltern offen umging, d.h. sie hat sich z.B. erlaubt zu weinen und ihren Kummer zu zeigen. Dabei hat sie versichert, sie weine natürlich nicht vor den Kindern. Wir alle haben diese Tendenz. Kinder brauchen aber Erwachsene, die sich mit all ihren Gefühlen zeigen. Erstens ist nur so eine gleichwertige Beziehung möglich und zweitens: wie sollen die Kinder sonst lernen, dass alle Gefühle zu einem wertvollen reifen Menschen gehören und o.k. sind.
Wir Erwachsene zeigen unseren Kummer nicht. Auch Kinder sollen nicht mehr leiden. Immer mehr Eltern sehen ihre Verantwortung darin, Kinder vor jeder Frustration, jedem Schmerz, jeder Traurigkeit und insbesondere vor unangenehmen Erfahrungen zu bewahren. Jesper Juul nennt diese Eltern “Helikopter-Mütter und Helikopter-Väter”. Helikopter-Eltern kreisen über ihren Kindern und versuchen jede mögliche unangenehme Erfahrung für ihre Kinder (z.B. von einem anderen Kind geschubst zu werden) schon im Vorfeld abzuwenden. Damit tun sie ihren Kindern einen zweifelhaften Dienst. In meiner Arbeit mit Eltern verwende ich in diesem Zusammenhang immer das Bild von einem psychischen Immunsystem. So wie das biologische Immunsystem Viren, Bakterien und Keime benötigt, um sich gut auszubilden und stark werden zu können, benötigt das psychische Immunsystem die normalen Belastungen des Lebens. Eine normale Belastung im Leben eines Kindes ist z.B. die Erfahrung, von einem anderen Kind gehauen oder geschubst zu werden. Wenn Mama, Papa oder eine andere Bezugsperson diese Erfahrung empathisch begleiten, nimmt das Kind keinen Schaden. Im Gegenteil: Es lernt: Etwas hat weh getan, mir Angst gemacht … und diese Erfahrung ist (zunächst noch mit Hilfe von Mama, Papa, Anna …) für mich bewältigbar. Eine eindrückliche Erfahrung hatten wir selbst diesbezüglich vor wenigen Wochen mit unserer zweijährigen Tochter. Wir waren auf der Kirmes. Mariella liebt das Karussellfahren und sie drehte glücklich ihre Runden in einem Feuerwehrauto. Danach wollte sie wie ihr großer Bruder mit Mama Karin Boxauto (Knuppauto) fahren. Dies erwies sich als Fehlentscheidung. Die Fahrt hat ihr große Angst gemacht. Unsere Tochter hat geweint und recht lange gebraucht, um sich wieder zu beruhigen. Spannend war, was in den folgenden Tagen geschah: sie erzählte immer und immer wieder diese beiden Erlebnisse – das Glück im Feuerwehrauto und die Angst im Boxauto. Am Tag des Geschehens 30x, am folgenden Tag 20x, am dritten Tag 10x … verbalisierend, mit Zuhilfenahme von Mimik und Gestik verdaute sie das Erlebte. Und von Tag zu Tag kann sie es entspannter erzählen. Freud und Leid … im Leben so oft so nah beieinander … das ist das normale und reale Leben … und davor sollten wir unsere Kinder nicht schützen.
Spannend für mich sind auch die Verwirrungen, die für Eltern und Kinder entstehen, wenn neue Erziehungsstile und -ziele und alte verinnerlichte Erziehungsparadigmen zusammentreffen. Wir wollen, dass sich unsere Kinder frei entfalten können, wozu gehört, dass sie auch all ihre Gefühle zeigen und all ihre Bedürfnisse und Wünsche äußern können (Im Supermarkt: Ich möchte Schokolade. Mama kauft mir keine. Das gefällt mir nicht. Ich quengle und motze.) Gleichzeitig wollen wir wie früher nette, höfliche und gehorsame Kinder (Oh je, was denkt die Verkäuferin? – “Hör sofort auf, so ein Theater zu machen!”). Wir distanzieren uns (zum Glück) von Kritik, Strafe, Hohn und Demütigung, haben aber in uns noch nicht wirklich einen neuen Weg entwickelt, gut mit unseren Kinder zu kommunizieren. Der Wolf zeigt sich dann oft im Schafspelz: wir kommunizieren aggressive Inhalte in weicher und vermeintlich liebevoller Sprache (“Wenn du so quengelst, mein Schatz, dann kann Mama dich nicht mehr zum Einkaufen mitnehmen. Das ist Mama zu anstrengend”). Wir wollen nicht autoritär sein und keine verletzende oder aggressive Sprache verwenden. Wie sagen wir dann, was wir wollen und was wir nicht wollen? Wie übernehmen wir auf eine gute Art die Führung, die Kinder brauchen. Gefordert sind eine persönliche Sprache und ein authentisches Feedback. Und gefordert ist auch ein hohes Selbstwertgefühl. Unsere Kinder können nur sie selber sein, wenn sie nicht unsere Erwartungen erfüllen müssen, damit wir uns wertvoll und gut fühlen. Persönliche Sprache, authentisches Feedback, Selbstwertgefühl – in vielen Erwachsenen tut sich hier ein weites Entwicklungsland auf.
Machen wir uns auf den Weg!
Literaturhinweis:
Jesper Juul (2013): Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist.Frankfurt: Fischer Verlag.
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Fördern – bis in der Seele alles leer ist
Fördern – bis in der Seele alles leer ist. Diesen Satz wählte der Erziehungsexperte Wolfgang Bergmann als Auftakt zu seinem Buch gegen der Förderwahn in der Erziehung. Eine Tendenz, die allgegenwärtig ist und doch nicht neu. In meiner Ausbildung zur Erzieherin vor 25 Jahren nahm das Durchführen geleiteter pädagogischer Aktivitäten einen großen Raum ein. Ich weiß noch, wie unermüdlich wir das Formulieren von Grob- und Feinzielen geübt haben. Diese beinhalteten unsere Vorstellung, was ein Kind in einem pädagogischen Angebot z.B. bei der Einführung eines neuen Liedes erfahren und lernen sollte. Alles ganz spielerisch und – vermeintlich – Kind gerecht natürlich. Ich habe das damals nicht in Frage gestellt. (Es hat mir nur keinen Spaß gemacht und ich habe dann lieber in therapeutischen Teams in der Psychiatrie gearbeitet – da war mehr Beziehung und ein lebendigeres Miteinander.) Von Selbstbildungsprozessen, von der Fähigkeit eines Kindes, seinen eigenen Lern- und Entwicklungsprozess gemäß seinem “inneren Fahrplan” selbst zu steuern, war in meiner Ausbildung nicht die Rede. Ich glaube, man wusste damals auch noch wenig darüber, wie Kinder lernen. Heute sind wir wissend, zumindest wissender. Der pädagogische Alltag lässt sich davon wenig stören. Immer noch versuchen Pädagog/innen das Kind zu Dingen zu verleiten, die seinem inneren Ziel nicht entsprechen. Da sitzt eine vielleicht Vierjährige in der Bauecke – ganz versunken in den Bau einer Höhle für ihr kleines Schaf. Das braucht doch Schutz – vielleicht beginnt es gleich zu regnen. Mitten in das innere Erleben des Kindes hinein dringt das Händeklatschen oder das Rufen der Erzieherin: Aufräumzeit – es ist soweit – gleich wird der Stuhlkreis gemacht. Die heutige Aktivität ist dran. Mit deren Vorbereitung waren die Erzieherinnen auch so beschäftigt, dass sie das kleine Mädchen und ihr Tun, gar nicht wahrgenommen haben. Herausgerissen aus ihrem vertieften Spiel sitzt das Mädchen dann im Stuhlkreis. Brav singt sie das neue Lied mit. Irgendwann lacht sie sogar mit den anderen über eine lustige Stelle im Liedtext. Na also – sie hat doch Spaß, die Aktivität gefällt ihr. Ja, aber was lernt das Kind? Welchen Preis hat das neue Frühlingslied? Auf jeden Fall führt es sie weg von sich selber. Das, von dem sie beseelt war, ist weg.
Fördern, bis in der Seele alles leer ist. Kein neues Phänomen. Neu ist heute vielleicht, dass der Förderwahn auch die Elternhäuser erreicht hat und in- oder außerhalb einer Krippe die Unter-Dreijährigen. Mir ist erst seit wir Kinder haben bewusst, wie groß das Angebot an Fördermöglichkeiten ist. Da gibt es Babyschwimmen, Babymassage, PEKiP-Gruppen, Mal-, Musik- Sport- und Sprachkurse für Kleinkinder, Waldfühltage, Airtramp-Angebote, Lernspiele über Lernspiele in Spielzeugläden und vieles vieles mehr. Nicht das jedes einzelne dieser Angebote schlecht wäre (bis auf den Sprachkurs vielleicht …). Im Gegenteil: wenn ein einzelnes Angebot auf ein besonderes Interesse des Kindes trifft und auch der begleitenden Bezugsperson Freude macht, kann das wunderbar sein. Mir hat einmal eine Großmutter erzählt, dass sie einmal die Woche mit ihrem dreijährigen Enkel zum Kinderturnen geht. Toll – und wertvoll – vermutlich weit mehr für die Beziehung Oma-Enkel als für dessen motorische Entwicklung – und so soll es auch sein. Organisierte Frühförderkurse also, wenn wohl dosiert und wenn die Beziehung und der gemeinsame Spaß im Vordergrund steht. Ansonsten rät der Gehirnforscher Dr. Gerald Hüther Eltern: “Bitte verzichten Sie auf fertige Programme und Bildungskataloge. Ihr Kind mag noch keinen Lehrplan verordnet bekommen”. Er rät stattdessen, ein anregendes Umfeld zu schaffen, in dem das Kind seinen Interessen und seiner Wissbegierde in Freiheit nachgehen kann.
Fördern – bis in der Seele alles leer ist. Manchmal finde ich unseren viereinhalbjährigen Sohn tief versunken in sich selbst. Er macht dann ästhetische langsame Hand- und Armbewegungen, die er mit den Augen verfolgt. Oder er murmelt Worte, zitiert Sätze aus seinen Büchern, spricht Zahlenreihen. Oft erschließt sich mir von außen nicht der Sinn, aber es wird mehr wie deutlich, dass es einen inneren Sinnzusammenhang gibt, dass das, was ich sehen und/oder hören kann, intenisve Seelenbewegungen sind. Diese zeigen sich natürlich auch, wenn er baut, konstruiert, die Legofiguren reden lässt, in eine andere Rolle schlüpft, mit den Katzen kuschelt, die Puppenbabies versorgt, auf einem Spielplatz einen Freund für einen Nachmittag findet und selig ist … . Und natürlich, wenn er erzählt und erzählt und erzählt … Geschichten, Gedanken, Fragen, die seine innere Wirklichkeit gestalten und widerspiegeln. All das sind schöpferische, kreative Prozesse, in denen er seine Welt erschafft und gleichzeitig die Welt begreift. Im freien Spiel lernt das Kind alles, was es lernen will und muss, um sich zu entfalten und zu entwickeln. Vorausgesetzt die Umgebung ist reich genug an Anregung. Vorausgesetzt das Kind hat Menschen, mit denen es in Liebe verbunden ist und die seine Erfahrungen wahrnehmen, hilfreich begleiten und nähren. Und vorausgesetzt, das Kind hat erstens ausreichend zweckfreie Zeit, die es zweitens nicht vor dem Fernseher verbringt.
In der Vorbereitung dieses Blog-Beitrags musste ich mich entscheiden, welchen Schwerpunkt ich zum Thema “Wie lernen Kinder? Was brauchen sie, um sich gut zu entwickeln?” wählen sollte, um mich nicht zu verzetteln. Das Thema ist ein “weites Feld” und ich kann in einem so kurzen Beitrag nicht alle Aspekte beleuchten. Dabei habe ich gemerkt, dass mich der Satz von Wolfgang Bergmann “Fördern – bis in der Seele alles leer ist” am meisten berührt, interessiert und inspiriert. Vielleicht, weil mich die einseitig kognitiv-intellektuelle Ausrichtung unserer Bildungsinstitutionen nervt, die auch noch immer früher ansetzt. Bereits Vorschulkinder haben oft ein beeindruckendes Weltwissen. Sie wissen, wie die Feuerwehr organisiert ist, welche Tiere in Afrika leben, wie die ägyptischen Pyramiden aussehen, wie ein Motor funktioniert, wie im ländlichen China die Häuser gebaut werden und wie in Trier die Römer und in Südamerika die Indianer früher gelebt haben. Sie lernen auch so praktische Dinge wie das Lesen der Uhrzeit, das Sich Zurechtfinden im Straßenverkehr, das Zählen und die Buchstaben. Zumindest ihren eigenen Namen können Vorschulkinder meist schon schreiben. Was ist daran so schlimm? Nichts! Im Gegenteil: Toll, dass die Neugierde und der Wissensdurst von Kindern heute auf viel mehr Anregung stößt, als dies noch zu meiner Kindheit der Fall war. Schlimm ist, was sie NICHT lernen. Sie lernen oft, viel zu oft nicht, sich selber zu spüren. Wie fühlt sich mein Herzschlag an? Wie, wenn ich aufgeregt bin oder getobt habe und wie nach einer Kuschelrunde auf dem Schoss der Lieblingserzieherin? Wie fühlt es sich an, wenn ich wütend/traurig/fröhlich … bin und nach was ist mir dann zumute? Wie kann ich mich entspannen und woran merke ich, dass ich entspannt bin? Vor einer Gruppenaktivität – möchte ich mitmachen oder möchte ich lieber etwas anderes tun? Hilft mir jemand, das herauszufinden oder ist es für alle einfach viel bequemer, wenn ich einfach mitmache und gar nicht in mich hineinhöre? Wie kann ich in einer Gemeinschaft meine Integrität wahren? Wie meine Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken und vertreten? Oder ist die Voraussetzung für Zugehörigkeit, dass ich mich anpasse? Wie geht es meinem Gegenüber – Mama, Papa, der kleinen Schwester, der Erzieherin, den anderen Kindern? Und woran kann ich erkennen, wie es ihnen geht? Was brauchen die jetzt wohl? Was würde ihnen gut tun? …. Jesper Juul et al sprechen in ihrem Buch “Miteinander” von “einer eklatanten und fundamentalen Schieflage unseres Bildungssystems”. Zugunsten einer einseitigen Gewichtung auf die mentalen und intellektuellen Fertigkeiten lernen die Kinder kaum etwas, was ihnen hilft, sich selbst und andere besser wahrzunehmen und zu verstehen. Dabei ist das die Grundlage für ein gelingendes Leben. Dabei geht es auch nicht um eine einseitige Gewichtung hierauf. Es geht um eine ausgewogene Balance zwischen Selbst-Wissen, Um-andere-Wissen und Welt-Wissen.
Und bei Welt-Wissen geht es erst einmal um die Aneignung der unmittelbaren über die Sinne erfahrbaren (Um)Welt: Das freie Spiel mit Sand, Wasser, Erde, Steinen und Pflanzenteilen. Das Erfahren von Wind, Sonne, Regen, Schnee, Wärme und Kälte. Die Käfer im Garten entdecken, die Vögel am Himmel beobachten, den Hund der Nachbarin streicheln. Ein Feuer beobachten, erleben, wie es wärmer wird, wenn man sich ihm nähert, bis zu dem Punkt, an dem es unangenehm heiß wird. Bei solchen Erfahrungen sind durch ihre Komplexität viele Sinne und damit das ganze Gehirn beteiligt. Ganz anders als z.B. bei einem Kind, das auf einem Stuhl im Sprachkurs sitzt. Wie auch immer sich die Pädagog/innen bemühen, wie spielerisch auch immer sie ihr Angebot gestalten, vermutlich sind nicht mehr als ein bis zwei Gehirnbereiche aktiv. Der Rest ist dunkel und leer. “Fördern, bis in der Seele alles leer ist”.
Die Beteiligung des ganzen Gehirns ist nicht nur bei Naturerfahrungen gegeben. Immer wenn ein Kind aus eigenem Antrieb und mit intensiven Gefühlen bei der Sache ist, ist auch sein Gehirn hoch aktiv. Gerald Hüther sagt wir lernen, “wenn uns etwas unter die Haut geht” – erschüttert darüber sein dass das Bauwerk eingestürzt ist, freudig das erste Puzzle ganz alleine zusammensetzen, traurig ein totes Vögelchen im Garten begraben, genussvoll im Bett mit Mama kuscheln, neugierig und voller Spannung beobachten, wie ein Kran aufgebaut wird. Die Lernforschung spricht von der Bedeutung der emotionalen Beteiligung. Deshalb ist es auch in der Psychotherapie so wichtig, dass Klient/innen nicht nur erzählen, was sie beschäftigt / erlebt haben etc. . Auch die dazu gehörenden Gefühle und Körperempfindungen müssen aktiviert sein – sonst tut sich im Gehirn wenig, d.h. es passieren keine neuen Verschaltungen.
Die emotionale Beteiligung ist also wichtig und – so ergänzt die Bindungsforschung – die emotionale Sicherheit. “Vor der Bildung, die derzeit überall hofiert wird, steht die Bindung”, so der Münchner Bindungsforscher Dr. Karl-Heinz Brisch. Nur wenn Kinder eine sichere emotionale Basis haben, können sie ihr Potential entfalten und Bildungsangebote auch nutzen. Emotionale Sicherheit erleben jüngere Kinder nur in Anwesenheit einer Bindungsperson. Viele moderne Kitas verstehen sich als Bildungshäuser. Das ist wunderbar – wenn das was sie tun auf den o.g. Erkenntnissen der Lernforschung basiert. Was dabei oft zu kurz kommt, das sind die Bindungsbedürfnisse der Kinder. Einen Erzieher/eine Erzieherin haben der/die in einer konzeptgeleiteten Eingewöhnungsphase besonders vertraut mit mir Kind (und meiner Familie) geworden ist und die Beziehung zu mir weiter vertieft; Zeit zum Kuscheln, auf dem Schoss sitzen, Erzählen und Lachen; Zeit,um die aktuelle Gefühlswelt eines Kindes in mir aufzunehmen und dem Kind Resonanzkörper zu sein; Zeit um wirklich in Ver-Bindung mit einem Kind zu gehen; Zeit … . Erzieher/innen haben allerdings bei einer Gruppengröße mit bis zu 25 Kindern und mit ca. 1,75 Fachkräfte pro Gruppe (Richtwerte für Rheinland Pfalz) auch wirklich keine günstigen Rahmenbedingungen für diese so wichtige Beziehungsarbeit. Das ist vielleicht nicht so schlimm für Kinder, die zuhause ausreichend emotionale Nähe und Körperkontakt erleben und die die Kindertageseinrichtung nur für wenige Stunden am Tag besuchen. Für Kinder, die ganztags betreut werden und/oder zuhause wenig emotionale Nahrung erhalten, kommt dieses Bedürfnis in den Einrichtungen häufig zu kurz. Auch die Elternarbeit kommt oft zu kurz. Dabei fühlen sich jüngere Kinder nur wirklich geborgen und sicher, wenn ihre verschiedenen Bezugspersonen und damit ihre unterschiedlichen Lebenswelten miteinander in Ver-Bindung sind.
Ausblick: Förderangebote kritisch betrachten, bedeutet nicht, sie zu verteufeln. Wie so oft geht es darum, “das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten”. Die Kita unseres Sohnes z.B. lässt viel Raum für freies Spiel. In diesen Freiraum streut sie wohl dosiert vielfältige Bildungsangebote, die die Kinder nutzen können, aber nicht müssen. Manche Bildungsangebote präsentieren sich ganz unaufdringlich – da wird einfach ein großes Behältnis mit Erbsen auf einem Tisch im Flur aufgebaut. Trichter, Becher und leere Flaschen laden zum Schütten, Umfüllen, Einfüllen … ein. Andere Angebote werden angekündigt: Der “Forscheropa” (ein Ingenieur und Sonderpädagoge im Ruhestand) ist da . Wer hat Lust, mit ihm mit Wasser, Strom, Luft … zu experimentieren? Jemand liest ein Bilderbuch vor. Wer möchte zuhören? Es besteht die Möglichkeit, eine bestimmte Basteltechnik auszuprobieren. Wer hat Lust? All das ist wunderbar. Kinder brauchen Impulse und Anregungen. Sofern sie damit nicht überfrachtet und dann schnell von äußerer Stimulation abhängig werden. Und sofern sie frei sind, teilzunehmen oder nicht.
Spannend finde ich, dass der Freiraum der Kita bis in unser Familienleben hineinwirkt. Vor allem in der Sommerjahreshälfte sind wir mit den Kindern häufig abends lange draußen. An der Mosel, auf Spielplätzen, an Badeseen, in schönen Biergärten, in der Natur … erleben wir wunderbare entspannte und schöne Familienzeiten. Wir kehren oft erst mit Einbruch der Dunkelheit zurück und entsprechend spät gehen die Kinder dann schlafen. Morgens schlafen wir aus, beginnen gemütlich unseren Tag und irgendwann geht Noel in die Kita. Dadurch, dass es in der Kita kein festes Programm gibt, an dem alle Kinder teilnehmen sollen, gibt es auch keine Notwendigkeit, dass die Kinder zu einer bestimmten Uhrzeit da sein sollen. Für diese Freiheit bin ich wirklich sehr dankbar. Auch wenn wir früh aufstehen, gibt es Tage, wo Noel erst mal zuhause spielen möchte. Schön, ihn dann selber regulieren lassen zu können, wo er gerade sein möchte – in kleinem Rahmen bei uns oder in der großen Kindergruppe. Er muss gar nicht in die Kita, wenn er nicht will. Das weiß er. Von dieser Freiheit hat er aber noch nie Gebrauch gemacht. Wie so oft bricht durch Freiheit eben nicht das Chaos aus: Noel geht gerne und eigentlich recht regelmäßig in seinen Kindergarten.
Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
Die Bilder unter den Buchempfehlungen sind Amazon Links. Wenn Du über sie bestellst, erhalte ich eine kleine Prämie. Für Dich wird das Buch nicht teurer. Lieben Dank!
Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. 2011. München: Kösel-Verlag.
Hüther, Gerald & Nitsch, Cornelia: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. 2008. München: Gräfe und Unzer Verlag.
Juul, Jesper & Hoeg, Peter et al: Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht. 2012. Weinheim: Beltz-Verlag.
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