Die Corona-Krise hat ein großes Potenzial für die Entstehung oder Verschlimmerung von Traumatisierungen und anderen psychischen Erkrankungen, wie Angststörungen, Zwangsstörungen und Depressionen. Darüber habe ich vor dem Hintergrund eines Live-Seminars mit Michaela Huber im Artikel “Die Corona-Krise aus Perspektive der Psychotraumatologie” geschrieben. Gefährdet sind v.a. die besonders Verletzlichen in unserer Gesellschaft: Menschen mit psychischen Vorbelastungen, einsame Menschen, Kinder (v.a. jene aus Familien mit multiplen Belastungen wie beengter Wohnraum, Armut, Sucht, psychische Erkrankung eines Elternteils…), alte und behinderte Menschen (v.a. in Heimen lebende), kranke Menschen (die z.B. im Krankenhaus nicht besucht werden dürfen) sowie all jene, deren Existenz durch die Corona-Maßnahmen auf dem Spiel steht.
Ohne Zweifel ist eine Infektion mit SARS-CoV-2 gefährlich. Schwere Krankheitsverläufe bis hin zur Todesfolge sowie Langzeitfolgen bei jenen, die die Viruserkrankung überwunden haben dürfen nicht bagatellisiert werden. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen ist eine Infektion mit SARS-CoV-2 mit schwerem oder tödlichem Verlauf dramatisch. Infektionsschutz ist wichtig. Genau diese Infektionsschutzmaßnahmen haben aber massive und langfristige Auswirkungen auf die seelische Gesundheit vieler Menschen. Corona darf unseren Blick nicht verengen. Wir müssen in einer Gesellschaft alle im Blick haben und alle schützen – die, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf von Corona haben und die, die ein hohes Risiko haben, infolge der Corona-Maßnahmen psychisch zu erkranken.
Hinter jeder psychischen Erkrankung verbirgt sich unendlich viel Leid. Leid, das manche Menschen nicht mehr ertragen und versuchen, sich das Leben zu nehmen. Psychisches Leiden passiert meist im Verborgenen – keine alarmierenden Bilder und Zahlen in den täglichen Nachrichten machen es für uns sichtbar. Kein täglicher Live-Ticker berichtet über Suizide und Suizidversuche. Das Leid ist trotzdem da und bittere Realität für viele. Auch unterhalb der Schwelle zu psychischen Erkrankungen sind psychische Folgeschäden zu erwarten. Was machen zum Beispiel die Kontaktbeschränkungen und das ständige Ermahnen zum Abstandhalten mit unseren Kindern? Kinder sind sozial – sie brauchen den Kontakt zu Ihresgleichen. Für die soziale Entwicklung gibt es ein Zeitfenster (3.-5. Lebensjahr), in denen ein Kind vielfältige Kontakte besonders dringend braucht, damit es entsprechende emotionale und soziale Kompetenzen ausbilden kann. Wenn in diesem Zeitfenster die Kontakte über Monate sehr eingeschränkt sind, weil z.B. die Kita geschlossen ist und das Kind auch privat wenig Kontakte hat, dann hat das Folgen. Kinder sind körperlich – sie möchten berühren, Körperkontakt, auf den Schoss genommen, in den Arm genommen werden, sich aneinander kuscheln. Was macht es mit unseren Kindern, wenn ihre impulsive und ihnen innewohnende Annäherung immer wieder unterbunden wird? Wenn sie immer wieder ermahnt werden, Abstand zu halten? Kinder stellen natürliche Verhaltensimpulse (auf Kosten hohem inneren Stress) ein, wenn diese immer wieder unterbunden bzw. negativ konnotiert werden. Die entsprechenden neuronalen Verschaltungen werden gehemmt. Es ist viel Arbeit, einmal gehemmte neuronale Verschaltungen wieder zu aktivieren.
Wir alle tragen sowohl für den Infektionsschutz als auch für den Schutz vor psychischen Folgeschäden die Verantwortung.
Was braucht es jetzt? Wie können die Folgeschäden vermieden, vermindert oder geheilt werden?
Die Politik hat bei der Bewältigung der Corona-Krise die besonders Verletzlichen in unserer Gesellschaft zu wenig im Blick. Das ist ein Fakt. Wenn das Leid, das durch die Corona-Maßnahmen entsteht, gesehen wird, wird es als das “kleinere Übel” bewertet. Das ist diskussionswürdig. Soweit die politische Ebene. Auf die können wir uns aber alleine nicht berufen.
Neben der politischen Ebene geht es um die Übernahme persönlicher Verantwortung. Bei meiner Recherche bin ich auf einen bemerkenswerten Essay der Philosophin Hannah Arendt gestoßen: “Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur”. Hannah Arendt hat den Text 1964 und 1965 mehrfach als Vortrag gehalten, 1991 wurde er erstmals publiziert und jetzt vom Münchner Piper Verlag neu herausgegeben. Nun leben wir zum Glück nicht in einer Diktatur, aber in einem Ausnahmezustand. Bürgerliche Freiheitsrechte sind eingeschränkt und durch die Corona-Maßnahmen ist jeder gesellschaftliche Raum von der herrschenden Politik durchdrungen. Arendt plädiert klar für eine “Trennung von politischer und persönlicher Verantwortung” und meint damit: “Wir können uns nicht darauf berufen, nur ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein”. Da will niemand mehr hin. Wir sind gefordert, in unserem kleinen Wirkungskreis das für uns moralisch “Richtige” tun, auch wenn es ggf. dem gesetzlichen “Richtig” widerspricht. Für den Umgang mit gesetzlichen Vorgaben tragen wir persönliche Verantwortung. Wir können uns nicht darauf zurückziehen, uns einfach an die gelten Regeln gehalten zu haben. Das ist eine Bürde, eröffnet aber auch einen Handlungsspielraum. Wir können etwas tun!
Was heißt das nun konkret? Einfach ein paar Beispiele: Für die Zeit der elternbegleiteten Eingewöhnung erlaubt eine Erzieherin der Mutter den Aufenthalt in der Kita ohne Maske. Ihre Begründung: Die Konfrontation mit der neuen Kita-Situation geht beim Kind mit Unsicherheit, Angst und Stress einher. Um seine belastenden Gefühle regulieren zu können und um bei seiner Mutter Sicherheit zu finden, braucht es deren volle Mimik. Ein Grundschullehrer beobachtet wiederholt, dass sich ein Kind mit seiner Maske quält, Mühe mit dem Atmen hat und sich offensichtlich sehr unwohl darunter fühlt. Er erlaubt dem Kind immer wieder Maskenpausen. Eine Grundschullehrerin hat ein behindertes Kind in ihrer Klasse, das in besonderem Maße auf körpersprachliche Kommunikation und auf körperliche Nähe angewiesen ist. Sie macht Ausnahmen beim Hygieneschutz und geht immer wieder in nahen körperlichen Kontakt ohne Mund-Nasen-Schutz. Ein Kind ist gefallen und hat sich sehr weh getan. Die Lehrerin legt ihren Arm um das Kind und nimmt dabei ihre eigene Maske ab. Zur Co-Regulation einer hohen Erregung benötigt ein junges Kind Körperkontakt und das volle Gesicht. Eine Altenpflegerin beobachtet, dass eine Bewohnerin sehr unter der Isolation leidet. Sie spricht mit ihrer Stationsleitung. Infolge darf die Tochter der alten Frau zu Besuch kommen. Eine Mutter gerät mit Kinderbetreuung, Home-Office und Homeschooling in eine Überforderungssituation. Sie verliert den Kindern gegenüber immer öfter die Nerven und leidet zunehmend unter Schlafstörungen. Sie übernimmt persönliche Verantwortung und entscheidet, den Druck rauszunehmen und ihren Anspruch an das Homeschooling zu senken. Ich selbst hatte im ersten Lockdown einmal die Lehrerin unseres Sohnes angeschrieben und darüber informiert, dass wir diese Woche nicht alle Aufgaben geschafft hätten. Die Lehrerin hatte postwendend geantwortet und sinngemäß formuliert: “Liebe Frau Stroppel, ich bin keine Expertin für Trauma. Deshalb bin ich darauf angewiesen, dass Sie als Mutter für das psychische Wohlbefinden ihres Sohnes und für ein gutes Klima in der Familie sorgen. Expertin bin ich aber, was das Nachholen von Schulstoff angeht. Das können Sie getrost in meine Hände legen. Machen Sie sich also keinen Druck!”. Eine tolle Antwort, die Schule machen darf 🙂 … .
Ein ermutigendes Beispiel für die Übernahme persönlicher Verantwortung ist auch der Verein “Die Arche” in Berlin. Die Arche ist ein Kinder- und Jugendhilfswerk , das sich in einem Stadtteil engagiert, in dem sehr viele benachteiligte Kinder leben. Bereits im ersten Lockdown, als die meisten psychosozialen Einrichtungen ihre Türen geschlossen haben, machten die Mitarbeiter/innen der Arche einfach weiter – zum Wohl “ihrer” Kinder und deren Familien. So halten sie es jetzt auch im zweiten Lockdown. Sie besuchen die Familien zuhause, bringen Essen, bieten jedoch auch Gruppenbetreuungsangebote in ihren Räumen an. In der ZDF Sendung Zoom (ab 20:20) sagt Bernd Siggelkow, Gründer der Arche: “Vielleicht bewegen wir uns manchmal an der Grenze zur Legalität. … Natürlich muss der Infektionsschutz gesichert werden. Aber manchmal muss ich das Überleben (auch: das psychische Überleben – Anmerkung von mir) eines Kindes sichern. Dann ist mir der Kinderschutz wichtiger”. Die Sprecherin: “Damit passiert in der Arche auf pragmatische Weise das, was für die ganze Gesellschaft während Corona möglich gewesen wäre: Für Kinder andere Regeln schaffen, als für Erwachsene und sie gerade dadurch schützen”.
Mehr Menschen, die persönliche Verantwortung übernehmen und die Einhaltung von Regeln und Vorschriften mit Blick auf ihnen anvertraute kleine und große Menschen flexibel handhaben … das könnte viel Leid vermindern oder verhindern. Das bedeutet nicht, den wichtigen Infektionsschutz über Bord zu verwerfen. Es bedeutet ein sorgfältiges und situationsspezifisches Abwägen.
Den Spaltungsprozess nicht weitertreiben! In der Corona-Krise gibt es so viele unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven. Für Michaela Huber geht es zentral darum, unterschiedliche Positionen anzuschauen, zu hören, zu würdigen und zusammenzufügen. Es geht darum, einen Raum zu eröffnen, um gemeinsam nachzudenken. Es geht darum, sich für die Meinung des anderen zu interessieren, auch wenn sie von meiner abweicht. Das gelingt nur wenn mir klar ist, dass meine persönliche kleine Wahrheit zu der ich finde (auch wenn noch so viele sie teilen) subjektiv und fehleranfällig ist. Sowohl die Mainstreammeinung als auch die der Kritiker der Corona-Maßnahmen kann danebenliegen. Es ist wichtig, dass wir uns innerlich positionieren, sonst sind wir nicht handlungsfähig. Es ist aber auch wichtig zu anzuerkennen, dass die menschliche Erkenntnisfähigkeit stets begrenzt und unvollkommen ist. “Es geht nicht ums Recht haben … ich habe viel mehr Fragen als Antworten. … es geht um Perspektivenvielfalt.” (Michaela Huber). Jede und jeder kann diesen Raum, der einlädt gemeinsam nachzudenken, in ihrem/seinem persönlichen Umfeld eröffnen. Sei neugierig, stelle Fragen, höre zu, versuche zu verstehen und bewerte nicht. So einfach – und doch so schwer! Aber indem Du das tust, baust Du Brücken – und die brauchen wir! Perspektivenvielfalt im privaten, aber auch im öffentlichen Raum: “Wir sollten Psycholog/innen, Pädagog/innen, Sozialwissenschaftler/innen, Gesellschaftswissenschaftler/innen… einladen, hören und ernst nehmen. Deren Analyse und Perspektive ist so wichtig, wie die der Virolog/innen” (Michaela Huber).
Kritik zulassen und wertschätzen! Paul Schreier kommentiert in seinem Buch “Chronik einer angekündigten Krise” den Begriff “Corona-Kritiker” als eine “seltsame mediale Wortschöpfung, die eigentlich “Regierungskritiker” meint”. Und es ist gut, dass Menschen das Vorgehen der Regierung kritisieren. Wir brauchen Sie als Gesellschaft, die Andersdenkenden – die Probleme aus einer anderen Perspektive sehen, die einen Denkansatz verfolgen, der von dem der Mehrheit abweicht. Jana aus Irgendwo, die sich auf einer Demonstration mit Sophie Scholl verglichen hat, wurde dafür zurecht scharf kritisiert. Wir leben zum Glück in einer Demokratie und werden nicht enthauptet, weil wir anderer Meinung sind. Der Mut und die menschliche Größe von Sophie Scholl … da kommen wir nicht ran, wenn wir uns in Deutschland auf einer Demo äußern. In der Tat aber war Sophie Scholl eine Querdenkerin. Wie gesagt, wir brauchen Sie, die Andersdenkenden! Genauso legitim und gut ist es, wenn Menschen der Regierung, die sie ja gewählt haben vertrauen und die Corona-Maßnahmen als vernünftig und gut bewerten. Vielleicht ist es ja ganz oder in Teilen der richtige Weg. Wer weiß das schon? Wir brauchen Sie als Gesellschaft – die jeweils “Andersdenkenden”.
Fragen stellen! “Niemand hat in der jetzigen Situation eine 100% richtige Antwort, aber wir sollten uns Fragen stellen” (Michaela Huber). Hier einige der Fragen, die Michaela Huber in dem Seminar in den Raum gestellt hat:
- Das Narrativ der Pandemie ist: “Wir müssen die Alten schützen”. Tun wir das? Wirklich?
- Steht die Angst vor einem sehr konkreten Virus für andere, diffusere Ängste (Klimaveränderung, Umweltzerstörung … um unsere Erde steht es schlecht…)? Hilft die Beschäftigung mit einer ganz konkreten Gefahr, die Angst vor diffuseren Gefahren in Schach zu halten? Lenkt sie uns vor anderen Gefahren ab?
- In der Corona-Krise wird der Schutz des Lebens über alles andere gestellt. Deshalb muten wir die Schäden, die durch die Maßnahmen entstehen, anderen zu. Ist das ethisch und rechtlich vertretbar?
- Wenn es um das Corona-Virus geht, werden viele Kriegsmetaphern benutzt: der “Kampf” gegen das Virus, Pfleger und Ärzte arbeiten “an vorderster Front”, “Kollateralschäden”, das Virus ist unser “Feind”… . Warum benutzen wir die Kriegssprache? Welche Folgen hat das?
- Wenn ein Virus grasiert, benötigen wir ein gutes Immunsystem. Aus der Perspektive der Medizin und der Psychoneuroimmunologie tun wir gerade aber vieles, was das Immunsystem schwächt: Masken, Desinfektionsmittel und Social Distancing machen es Coronaviren aber auch anderen schwer, sich auszubreiten. Das Immunsystem hat wenig zu tun – zu wenig? Durch die Art der Berichterstattung wird die Angst der Menschen hochgehalten – Angst schwächt das Immunsystem. Beziehung, sich umarmen, körperliche Nähe werden reduziert. Sportmöglichkeiten (Fitnessstudios, Vereinswesen, Achtsamkeitskurse…) werden geschlossen. Ist das sinnvoll?
Vielen Dank fürs Lesen! Über Rückmeldungen freue ich mich. In dieser Zeit sind Vernetzung und Austausch besonders wichtig, damit wir einen Raum schaffen, gemeinsam nachzudenken.
So schaffen wir es GEMEINSAM!
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