Mein Artikel „Wie geht es den Kindern in der Pandemie?“ hat innerhalb weniger Tage über fünfzehntausend Menschen allein via Facebook erreicht. Ich habe viele Zuschriften erhalten, von Eltern, aber auch von therapeutischen und pädagogischen Fachkräften. Die hohe Reichweite spiegelt, dass das Thema viele berührt und beschäftigt. Viele Eltern und Fachkräfte wünschen sich Information, Unterstützung und eine Veränderung der Situation für die Kinder.
Hier nur ein paar ausgewählte Zuschriften:
“Meine Frau macht pferdegestützte Therapie; es ist erschreckend, wenn man sieht, wie verängstigt die Kinder mittlerweile sind! Viele sind nicht mal bereit die Maske draußen, in der Natur, bei den Pferden, abzulegen. Da könnte man echt verzweifeln.”
„Als Förderlehrerin, die sich jeden Tag aufs Neue seit zwei Jahren Gedanken um alle Kinder macht, kann ich dir nur für deinen Artikel danken. Ich erlebe Kinder, die seit zwei Jahren nicht mehr gut schlafen, Kinder die jeden Tag mit Bauchschmerzen in der Schule sitzen, Kinder die ihren Sport/ihr Hobby nicht mehr ausüben können/konnten, Kinder die Strafen bekommen weil sie ihre Maske nicht tragen, Kinder die Ticks entwickelt haben, … die Liste ist enorm und ich kann es nicht mehr mit ansehen.“
„Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel! Als Logopädin erlebe ich es genauso. Die Kinder mit einer verzögerten Sprachentwicklung und/oder mit einer fehlerhaften Aussprache werden zahlreicher. Bei Kindern, die vor Corona bereits in Therapie waren, stagniert diese oft.“
„Ich bin Lehrerin. Vor den Lockdowns hatte ich zwei verhaltensauffällige Kinder in meiner Klasse. Jetzt sind es acht.“
„Ich arbeite als Lehrerin. Seit den Lockdowns beobachte ich bei den Kindern, die zuhause keine guten Bedingungen fürs Homeschooling hatten, enorme Leistungsrückstände. Durch die Testungen, Isolationen und Quarantänen fällt viel wertvolle Unterrichtszeit weg, so dass die Rückstände nur schwer aufzuholen sind.“
„Meine Tochter hat eine Lernbehinderung und eine Wahrnehmungsstörung. Das Maskentragen im Unterricht behindert sie zusätzlich beim Lernen. Sie hört oft nicht, was die Lehrerin sagt und ihr fehlen die mimischen Signale, um das Gehörte richtig zu deuten.“
Zusammengefasst berichten viele folgende Erfahrung: Ich sehe bedenkliche Veränderungen auf Seiten der Kinder und ihre Not. Manchmal versuche ich im Kolleg/innenkreis oder im privaten Umfeld darüber zu sprechen. Das ist schwer. Ich finde mich vor einer Mauer des Schweigens wieder. Oder das was ich sage, wird abgetan, wie etwa: „Ach, komm, die Kinder haben sich doch prima an die Maßnahmen gewöhnt. Es sind die Erwachsenen, die meckern“. Manchmal werde ich auch offen in die Ecke der Corona-Leugner gestellt. Der Tenor: Ich sehe die Not der Kinder und fühle mich hilflos.
Beim Lesen dieser Zuschriften klingt etwas in mir an. Ich brauche einige Tage, bis ich es greifen kann. Das Wort, das zu diesen Erfahrungen gehört, ist: TABU.
Auch ich hatte (mich) ja in meinem Artikel „Wie geht es den Kindern in der Pandemie?“ gefragt: „Dürfen wir wirklich wahrnehmen, wie es den Kindern geht?“ Vielleicht dürfen wir es nicht, weil die Folgen der Corona-Maßnahmen für die Kinder tabuisiert sind.
WAS IST EIN TABU?
Ein Tabu beruht auf einem stillschweigend praktizierten Regelwerk. Da gibt es etwas, über das nicht (öffentlich) gesprochen werden darf – sei es innerhalb einer Familie oder innerhalb der Gesellschaft. Aus meiner psychotherapeutischen Praxis weiß ich, wie mächtig Tabus sind. Nach dem Motto „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ wird ein bestimmtes Thema ausgegrenzt. Etwas wirkt in unserem Leben, darf aber nicht benannt werden.
Eine Klientin fällt mir ein, deren Bruder mit zwei Jahren tödlich verunglückt ist. Im ganzen Haus hing kein Foto von diesem Kind. Über den Unfall und den kleinen Bruder wurde in der Familie nie wieder gesprochen.
Der Vater eines Klienten war Alkoholiker. Oft genehmigte er sich schon vor dem Frühstück einen Schnaps. Die ganze Familie und auch Besucher haben so getan, als wäre nichts. Etwas stand für alle sichtbar im Raum und durfte nicht benannt werden. Der Elefant, der mitten im Raum steht und alle tun so, als wäre er nicht da.
Die traumatisierten und oft sehr veränderten Männer, die nach den (Welt-)Kriegen zu ihren Familien zurückkehrten. Sie wurden von niemandem auf das Erlebte angesprochen und haben auch von sich aus nicht über ihre leidvollen Erfahrungen geredet. Die vielen Frauen, die Vergewaltigung erlebt haben. Die vielen Anhänger einer Ideologie, die plötzlich damit konfrontiert waren, dass sie auf der falschen Seite standen. Über alles wurde ein Mantel des Schweigens gebreitet.
Der Missbrauch in Institutionen der katholischen Kirche, der gerade aufgedeckt wird. Ein Film dazu trägt den Titel „Und alle haben geschwiegen“. Die physische und sexuelle Gewalt gegenüber Kindern geschah vor aller Augen und im Schatten des Tabus. Viele haben das Leid der Kinder nicht wahrgenommen und wenn, dann nicht gewagt, etwas zu sagen.
WIE WIRKEN TABUS?
Familiäre und kollektive Tabus sind sehr mächtig. Ein bestimmtes Thema wird ausgegrenzt. Das führt dazu, dass man manchmal nicht mehr sehen kann, was vor den Augen passiert. Und wenn man es sieht, löst es Scham, Angst und Unsicherheit aus. Tabus betreffen nicht nur die Ebene des Wahrnehmens, des Denkens und des Benennens. Sondern auch der Kontakt zu bestimmten Personen und Orten, sowie gewisse Handlungen sind „verboten“ und werden gemieden. Somit haben Tabus die Tendenz, einen verbotenen Radius, eine „Sperrzone“ abzustecken. Alles, was in die Nähe des Tabus rückt, wird bewertet und schnell als zu „gefährlich“ angesehen. Ein Überschreiten dieser unsichtbaren „Sperrzone“ wird meist schnell geahndet. Ein Tabu ist ein ungeschriebenes Gesetz, das aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbietet, bestimmte Dinge zu tun. Tabus wirken in unserem Leben, können aber nicht benannt werden. So verhindern sie, dass Leid wahrgenommen und durch den offenen Umgang damit Veränderung möglich werden kann.
Tabus schützen ein Thema vor dem Diskurs in einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft. Damit haben sie eine wichtige Funktion. Ihre Aufgabe besteht darin, eine kritische Auseinandersetzung mit einem Thema zu vermeiden, zu verbieten – im Dienste individueller oder kollektiver Interessen.
Dazu werden – unausgesprochen – Regeln aufgestellt. Diese müssen befolgt werden, sonst drohen negative Konsequenzen. Somit sind Tabus angstregiert: Angst vor beruflichen und/oder persönlichen Nachteilen, Angst vor Ausgrenzung, Angst vor Abwertung, Angst vor Stigmatisierung und Diffamierung. Tabus sind eng mit Scham verknüpft. Macht man etwas, das von der Gruppe kritisiert wird, stellt sich das Gefühl der Scham ein. Scham ist ein sehr unangenehmes Gefühl, das wir verzweifelt zu vermeiden versuchen. Jemanden beschämen hat daher eine große Kraft, wenn wir möchten, dass sich jemand an Regeln hält und diese nicht in Frage stellt. Die Inuit wussten dies. Wagte sich ein Kind zu weit auf das Eis wurde es von der ganzen Dorfgemeinschaft ausgelacht. Das war die größtmögliche Strafe und am wirksamsten, um sicher zu stellen, dass sich das Kind nie wieder in diese Gefahr begab. Aus der Psychotraumatologie ist bekannt, dass Tabus auch davor schützen, mit einem (inneren) Schmerz (erneut) in Berührung zu kommen.
TABUS IN DER CORONA-KRISE
Rund um Corona sind in meinem Erleben viele Tabus entstanden. Warum? Von Beginn an galt das Narrativ „Wir müssen die Schwachen in unserer Gesellschaft schützen“. Der damit verbundene Appell an Solidarität impliziert, dass jede Kritik an den Maßnahmen der Regierung als Akt der Unsolidarität bewertet und scharf verurteilt wird. Und wer möchte schon unsolidarisch sein? Dabei war der Blick von Anfang an auf die Gefahr, die von dem Virus ausgeht, eingeschränkt. Dass es auch besonders Verletzliche in unserer Gesellschaft gibt, die durch die Maßnahmen Schaden nehmen, durfte nicht benannt werden. Das wurde schnell zum Tabu, weil es eine Gefahr für das Narrativ war, das den Maßnahmen zugrunde lag.
Zu dem Leid der Kinder durch die Maßnahmen: Viele von uns sind nicht bedürfnisorientiert aufgewachsen und haben in ihrer Kindheit leidvolle Erfahrungen gemacht. Vielleicht kein von außen sichtbares großes Leid, vielleicht „nur“ das subjektive Erleben „mein Kummer, mein Schmerz, meine Not werden nicht wahrgenommen, mir wird nicht geholfen“. Daraus kann „also kann ich auch die Not meiner Kinder nicht sehen“ werden. Solche Mechanismen sind aus der Forschung rund um die Weitergabe transgenerationaler Traumata bekannt. Wer selbst erlebt hat, durch Mächtige (Eltern, Lehrer…) verletzt und beschämt zu werden, entwickelt diesbezüglich „blinde Flecken“ in der Wahrnehmung, um nicht mit dem erlebten Schmerz in Berührung zu kommen. Möglicherweise gibt es deshalb gerade so viele, die das Leid der Kinder nicht wahrnehmen oder bagatellisieren.
Ein weiterer Aspekt ist der erlebte Kontrollverlust. Da sind das gefährliche unbekannte Virus und die von der Regierung beschlossene Maßnahmen – beides entzieht sich unserer Kontrolle. Das Bedürfnis nach Kontrolle ist jedoch eines der wichtigsten psychischen Grundbedürfnisse (vgl. Grawe). Eine Hypothese wäre, dass die Maßnahmen nicht in Frage gestellt werden dürfen, weil diese wenigstens mit ihren klaren Regeln und Vorgaben das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung befriedigen. Eine Rolle spielt hier auch die erlebte Hilflosigkeit. Hilflosigkeit ist ein besonders aversives Gefühl, das wir zu vermeiden versuchen. Wenn wir in unserem Erleben nichts tun können, um eine Not zu wenden, ist es für unser psychisches System günstiger, die Not gar nicht erst wahrzunehmen.
WAS IST JETZT NOT-WENDIG? WEGE AUS DER TABUISIERUNG
Der Weg aus der Tabuisierung kann spannend sein, geht es doch darum, eigene Grenzen zu erweitern, sich den eigenen Ängsten zu stellen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Neben der potenziellen Bereicherung für unsere persönliche Entwicklung ist es ein not-wendiger Weg. Nur jenseits von Tabus können wir unsere eigene Not und die Not anderer Menschen wahrnehmen, benennen und konstruktiv damit umgehen. Wir sind nur jenseits von Tabus frei und handlungsfähig.
Wie geht Ent-Tabuisierung? Dami Charf (Psychotraumatherapeutin) empfiehlt in ihrem Artikel „Die Wirkung von Tabus auf unser Leben“ zunächst die „Konturen des Tabus“ zu erforschen. Im Kern geht es darum, unbehagliche Gefühle und kritische Gedanken zu einem Thema wahrzunehmen und ihnen mit Neugier und Forschergeist zu begegnen. Das gelingt nur, wenn wir unsere Gefühle und Gedanken nicht bewerten, sie nicht in Schubladen wie “richtig“/“falsch“, “gut”“schlecht“, “solidarisch”/”unsolidarisch” stecken. Dann können wir ein Thema offen und (vor)urteilsfrei wahrnehmen, uns in Übereinstimmung mit unseren Bedürfnissen und Werten dazu positionieren und entsprechend handeln. Entsprechend gilt dies auch für die Begegnung mit uns allen als individuell andersdenkende Menschen. Raus aus Bewertungen wie „das kann doch nicht sein“, „du übertreibst“ und rein in einen offenen wertschätzenden Dialog.
DAS TABU IST JETZT NOCH NICHT AUFGELÖST, ABER GEBROCHEN. WAS KÖNNEN WIR JETZT KONKRET TUN?
Hat man selbst begonnen, ALLE Gefühle und Gedanken rund um Covid-19 wahrzunehmen, anzunehmen und offen zu erforschen, dann ist das Tabu in einem selbst gebrochen. Aber es ist noch nicht aufgelöst. In uns selbst nicht und schon gar nicht in der Gesellschaft. Eine umfassende Veränderung der Situation für die Kinder (und für andere Betroffene) ist jedoch erst dann möglich, wenn auf allen Ebenen (individuell und gesellschaftlich) zu weiten Teilen eine Ent-Tabuisierung stattgefunden hat. Diese voranzutreiben ist also das prioritäre Ziel. Im folgenden ein paar Ideen, wie jeder Einzelne von uns zu diesem Prozess beitragen kann.
Wahrnehmen, ohne zu bewerten
Eine (vorurteils)freie und offene Wahrnehmung eigener Gefühle, Gedanken, Körperempfindungen und vielleicht auch Handlungsimpulsen ist die Basis und bleibt weiter wichtig. Hier sollten wir uns einfach offene Fragen stellen. Das ist immer eine sinnvolle Grundlage für “Forschungsprojekte”. Wie ist es für mich, die Maske zu tragen? Wie wirkt sie sich auf mein Atemmuster aus? Wie ist es für mich, mit maskiertem Gesicht in einer Begegnung zu sein? Wie ist es für mich, wenn mein Gegenüber eine Maske trägt? Was verändert es für mich, wenn zwischen mir und meinem Mitmenschen eine Plexiglasscheibe ist? Was kann ich als nicht geimpfte Person in meinen Gefühlen, Gedanken und in meinem Körper wahrnehmen, wenn ich durch die Stadt gehe und Restaurants/Geschäfte sehe, in die ich gerade nicht rein darf. Wie ist es für mich als geimpfter Mensch, wenn ich in einem Restaurant sitze und weiß, dass viele Menschen ausgeschlossen sind? Was genau passiert in mir, wenn ich einen bestimmten Artikel zum Thema Corona lese? Wie ist es für mich, mein Kind mit Maske zu sehen? Viele weitere Fragen sind denkbar – und natürlich eine Vielzahl vielfältiger Antworten. Die innere Welt ist bunt und unterschiedlich.
Dieselbe Haltung ist in der Begegnung mit anderen Menschen wichtig. Gerade, wenn unser Gegenüber andere Gefühle und Gedanken zum Thema Corona hat. Auch hier helfen offene W-Fragen und nicht-bewertendes, neugieriges Zuhören. Nicht was wir denken ist wichtig. Jetzt geht es darum, dem anderen unser Ohr und unsere Empathie zu schenken.
In meiner psychotherapeutischen Praxis übe ich beides viel mit Klient/innen. Was löst eine objektiv wahrnehmbare Situation in mir aus? Welche Gefühle habe ich auf der Basis welcher Bedürfnisse? Und was löst die Situation bei meinem Partner/Nachbarn/Freund aus? Welche Gefühle mag er auf der Basis welcher Bedürfnisse erleben? So geht respektvolles Miteinander auf der Basis eigener innerer Klarheit. Wichtig: Zuhören und das Gesagte als inneres Erleben meines Gegenübers annehmen bedeutet nicht, dass ich inhaltlich zustimme. Es bedeutet, dass ich das Gesagte als Produkt der individuellen Biografie und des aktuellen Erlebens meines Gegenübers anerkenne. Es geht nicht um: Wer hat Recht? So kommen wir nicht weiter. Auf der Ebene des inneren Erlebens geht es nicht ums Recht haben. Es geht um unsere kleine, persönliche und fehleranfällige Wahrheit, zu der wir finden. Aber eine andere haben wir nicht. Und mit der müssen wir uns zeigen!
Den Kindern helfen, die Wirkung der Maßnahmen wahrzunehmen und zu benennen
Eine der wichtigsten Aufgabe von erwachsenen Bezugspersonen ist, die Kinder darin zu unterstützen, ihr Erleben auf allen Bewusstseinsebenen (Gefühle, Gedanken, innere Bilder, Körperempfindungen und Handlungsimpulse) differenziert wahrzunehmen und zu benennen. Das gilt in besonderem Maße auch für das individuelle Erleben des Maskentragens, des Abstandshaltens und der übrigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen. Kinder sind sehr feinfühlig gegenüber Tabus. Sie übernehmen sie und passen sich an. Es ist entscheidend wichtig, den Kindern das Tabu bezüglich der Corona-Maßnahmen zu nehmen und mit ihnen offen darüber zu sprechen. Ein Beispiel: Die kleine Lisa erzählt ihrer Lehrerin, dass Charlotte die Maske bis unter das Kinn heruntergezogen hat. Die Lehrerin könnte nun Lisa fragen, was diese denkt, warum Charlotte das getan hat. Sicher hat Lisa Ideen. Gemeinsam könnten die Lehrerin und Lisa nun zu Charlotte gehen und Lisas Interpretation überprüfen. Vielleicht sagt Charlotte, dass sie unter der Maske nicht gut atmen kann und eine Pause braucht. Jetzt könnte die Lehrerin Lisa fragen, wie es ihr mit der Maske geht. Wenn Lisa antwortet, dass das Tragen der Maske für sie kein Problem darstellt, könnte die Lehrerin kommentieren, dass Menschen unterschiedlich sind und Dinge verschieden erleben. Die Lehrerin könnte Charlotte abschließend fragen, wie lange Charlotte eine Maskenpause benötigt. Lisa und Charlotte lernen a) über das Maskentragen darf offen (und auch kritisch) gesprochen werden, b) Einfühlung in das individuelle Erleben der jeweils anderen, c) einen respektvollen Umgang mit Unterschiedlichkeit und d) die Relativierung von Regeln in Bezug auf diese Unterschiedlichkeit.
Wissen bezüglich der Folgen der Maßnahmen erwerben und weitergeben
Die Corona-Maßnahmen haben Folgen für die kindliche Entwicklung. Was wir bisher wissen ist, dass sich Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, Übergewicht und Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen in den Pandemiejahren verdoppelt bis verdreifacht haben. Auch der Medienkonsum mit der damit verbundenen Suchtgefahr ist drastisch gestiegen. Andere Folgen werden sich erst in ein paar Jahren, vielleicht sogar erst in Jahrzehnten zeigen. Es wird Kinder geben, die schulisch nicht ihr volles Potenzial entwickelt haben. Entwicklungsschritte, für die es ein bestimmtes Zeitfenster gibt (z.B. Sprachentwicklung, soziale Entwicklung) werden vielleicht nicht oder nicht vollständig gemacht sein. Manche Jugendliche werden vielleicht mit der Freiheit, die sie irgendwann wieder haben werden nicht umgehen können, weil sie die Schritte davor nicht gemacht haben, ihnen der gelernte Umgang mit Freiheit fehlt. Wie werden Kinder das Beenden der Social Distancing Maßnahmen erleben, sind diese doch bereits für ein Kinderleben unglaublich lange zwei Jahre Realität und Normalität? Wie gut wird es gehen, sich wieder ohne Maske und Abstand unbefangen zu begegnen? Werden die Kinder die Angst vor Viren und vor Krankheit wieder ablegen können? Wir wissen es nicht. Entwicklungsprozesse verlaufen oft lange im Verborgenen und manchmal braucht es Jahre, bis sie sichtbar werden. Vielleicht macht es das auch vielen so schwierig, die Auswirkungen der Maßnahmen auf die Kinder wahrzunehmen. Um so wichtiger, dass wir das, was wir wissen und das, was wissenschaftlich begründet zu erwarten ist, im Sinne von Information und Aufklärung weiter geben.
Anerkennung der Folgen des Tabus /Anerkennung des Schmerzes
Vielleicht werden wir eines Tages bereuen, was wir den Kindern im Schatten der Maßnahmen angetan haben. Sicher aber werden wir das bereuen, was wir ihnen durch die Tabuisierung zusätzlich antun. Dann ist es wichtig, uns dem Schmerz darüber zu stellen und die Folgen der Tabuisierung anzuerkennen. Es wird eine offene Aufarbeitung dessen, was passiert ist, brauchen. Nur so kann verhindert werden, dass destruktive Muster weitergegeben werden und in der nächsten Krise erneut ihre Wirkung entfalten. Für diese offene Aufarbeitung können wir jetzt mit einer offenen Wahrnehmung und Kommunikation die Weichen stellen.
Unterschiedliche Betroffenheit deutlich machen
Nicht alle sind in der Corona-Pandemie gleichermaßen betroffen. Vielleicht macht es das manchen auch schwer, die Not vieler Kinder wahrzunehmen. In Zeitalter von Corona driftet die Gesellschaft weiter auseinander. Da gibt es Familien mit großem Haus, Garten, gesichertem Einkommen, guten Bedingungen fürs Home-Office/Home-Schooling und gesunden, fitten Kinder. Sie werden Corona vielleicht als ein Krise erinnern, die sie gut zusammen bewältigt haben und daraus gestärkt hervorgegangen sind. Andere Familien haben auf unterschiedlichen Ebenen andere Bedingungen. Für sie sind Corona und die Maßnahmen ein negativer Stressor, der ein eh schon fragiles inneres und äußeres Gleichgewicht ins Wanken bringt. Es ist politisch und persönlich dringend erforderlich, den Blick weg vom Virus und auf ALLE besonders Verletzlichen in unserer Gesellschaft zu richten. Nur wenn wir hinschauen, können wir auch was sehen.
Ein Klima schaffen für differenzierte Wahrnehmung und für Perspektivenvielfalt
Insgesamt wird es wichtig sein, ein Klima zu schaffen für offene Wahrnehmung, differenziertes Denken und für eine größtmögliche Perspektivenvielfalt. Dazu tragen alle bei, die sich mit ihrer Sicht der Dinge und mit ihrer Expertise einbringen. Das sind die Befürworter/innen der Maßnahmen, aber auch die kritischen Stimmen. Gerade letztere sollten wir wertschätzen. Wir brauchen sie als Gesellschaft, die Andersdenkenden und Querdenker. Leider ist der Begriff “Querdenken” zu einem Unwort geworden, aber eigentlich bedeutet er etwas für die Gesellschaft wichtiges, nämlich “laterales Denken” (von lateinisch latus, “Seite”). Beim lateralen Denken wird ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Konventionelle Denkmuster und eingefahrene Denkspuren werden verlassen, um neue Sichtweisen zu eröffnen. Es geht darum, innovative und verantwortungsvolle Lösungswege in schwierigen Situationen zu finden.
Nur so kommen wir aus der Polarisierung und der Spaltung in einen offenen Diskurs. Nur so können wir die Situation der Kinder offen wahrnehmen und verbessern. Nur so schaffen wir es letztlich wirklich GEMEINSAM!
Neueste Kommentare