Kinder genießen in Deutschland einen besonderen Schutz. Dazu hat sich die BRD 1992 mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Das Kindeswohl muss bei allen staatlichen Entscheidungen, die sich auf Kinder auswirken können, vorrangig berücksichtigt werden (Art. 3, Abs. 1). Diese ist auch in Krisensituationen weiter gültig, soweit ich weiß.

Derzeit genießen alte Menschen und andere Risikogruppen einen besonderen Schutz. Das ist auch richtig so und wird von kaum jemandem in Frage gestellt. Die gesellschaftliche Solidarität und die Bereitschaft sich für andere einzuschränken ist groß. Es darf aber nicht passieren, dass das Kindeswohl bei den staatlichen Entscheidungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie aus dem Blickfeld gerät. Aber genau das passiert. Die Kinder haben in der Diskussion um die Corona-Maßnahmen keine Stimme und keine Lobby. Und dabei handelt es sich um staatliche Entscheidungen, die sich massiv und einschneidend auf Kinder auswirken.

Seit 6 Wochen sind die Kitas und Schulen zu. Die Kitas bleiben voraussichtlich bis zu den Sommerferien geschlossen, ebenso die Grundschulen für die erste bis einschließlich dritte Klasse. Das wird eben mal so in einer Pressekonferenz mitgeteilt. Ende der nicht vorhandenen Diskussion. Wenn Gefahr im Verzug ist, ist auch keine Zeit für Diskussion – oder? Diskussion bedeutet, dass ein bestimmtes Thema aus verschiedenen Perspektiven untersucht wird. Es muss Zeit und Raum sein für die Untersuchung der Frage, was der Lockdown für unsere Kinder bedeutet – denn Kinder genießen in Deutschland einen besonderen Schutz. Sie müssen bei allen Entscheidungen, die sich auf sie auswirken können, besonders berücksichtigt werden.

Für viele Kinder ist das Wegbrechen ihrer sozialen Bezüge eine große Belastung. Vertraute Erzieher/innen, Lehrer/innen und Spielkameraden sind von heute auf morgen unvorbereitet einfach aus dem Leben der Kinder verschwunden. Dabei wissen wir, wie wichtig stabile und verlässliche (Bindungs)Beziehungen und Kontakt zu Gleichaltrigen für die Entwicklung eines Kindes sind. Viele Kinder brauchen dringend das Bildungsangebot der Kitas und Schulen – weil sie einen erhöhten Förderbedarf haben und/oder weil die Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung nicht ausreichend unterstützen können. Für manche Entwicklungsschritte gibt es Zeitfenster und sensible Phasen, da kann man nicht einfach mal ein halbes Jahr pausieren. Viele Eltern sind selber am Limit und können die Kinder nicht mehr gut emotional auffangen oder was Sinnvolles mit ihnen machen. Und auch bei den Kindern gibt es Risikogruppen: Kinder aus belasteten Familien, Kinder mit einer brüchigen Beziehungsgeschichte wie z.B. Frühgeburten, chronisch kranke Kinder, Pflegekinder oder Trennungskinder, Kinder die aus anderen Gründen einen besonders verlässlichen Rahmen brauchen. Für diese Kinder stellt der Lockdown eine besondere Entwicklungsgefährdung dar. Es gibt Kinderseelen, in denen wir gerade viel anrichten und es gibt Kinder, die wir gerade nachhaltig in ihrer Entwicklung schädigen. Das ist dramatisch.

In der Politik sind die Kinder und ihre Rechte aus dem Blickfeld geraten. Politisch aktiv zu werden ist jetzt sicher wichtig und eine Möglichkeit. Es gibt privat initiierte Petitionen, Demonstrationen und auch große Organisationen wie z.B. der Kinderschutzbund intervenieren – auch mit Blick darauf, dass viele Eltern am Limit sind und nicht mehr können.

Auf einer anderen Ebene ist es aber wichtig, mit dem was gerade ist, aktiv und eigenverantwortlich und im Sinne der Kinder umzugehen. Beziehungspflege und Bildungsangebote müssen nun von Trägern, Schulen und Kitas in neue Formate gegossen und über neue Wege transportiert werden. Das braucht Innovationskraft und einen mutigen und kreativen Pragmatismus. Krisen konfrontieren uns damit, auf neue Herausforderungen innovative Antworten zu geben. Gerade in Krisen ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und das zu tun, was man im eigenen Wirkungskreis tun kann – als Schulleitung, Träger, Erzieher/in und auch als Elternteil.

Dafür gibt es aus den vergangenen Wochen ermutigende und inspirierende Beispiele: Die Lehrerin, die einfach an der Haustür klingelt und Arbeitsblätter doch eben mal persönlich vorbeibringt; Eine Erzieherin, die ihr Kitakind zuhause besucht – das ist ja erlaubt; Die Kita, die jeden Morgen zum gemeinsamen Morgenkreis per Videokonferenz einlädt; Der Erzieher, der seinen Bezugskindern alle paar Tage einen lieben Videogruß oder eine Sprachnachricht schickt; die Hortleiterin, die jede Woche anruft und fragt, wie es geht; Der Lehrer, der Einzelunterricht via Videotelefonat anbietet; Die Kita, die einmal pro Woche Essen kocht, das die Familien dann abholen können – weil das vertraute Kitaessen bei den Kindern eine emotionale Erinnerung weckt; Die Mutter, die jetzt das Gruppenfoto aus der Schublade gekramt hat und jeden Tag mit ihrem Kitakind die vielen Gesichter darauf betrachtet; Was haben diese Menschen gemeinsam? Der Wind der Veränderung weht … und sie bauen Windmühlen! Sie nutzen die Veränderungskraft für die Entwicklung neuer Wege für die ihnen anvertrauten Kinder. Und vielleicht entdecken sie dabei, es Spaß macht, neue Wege zu begehen und dass es dabei viel zu entdecken, zu lernen und zu entwickeln gibt. Veränderungen gehören zum Leben. Wir können uns dem Team “Mauerbau” anschließen oder dem Team “Windmühlen der Innovation und des Fortschritts”.

Aber warum gibt es doch auch so viele “Mauerbauer”? Das was früher war, geht jetzt nicht mehr … also machen wir die Schotten dicht … und machen nichts (oder fast nichts). Da sind Lehrer/innen, die verschicken einmal in der Woche das Wochenpensum. That´s it. Oder die Kita, die es 5 Wochen nach dem Shutdown geschafft hat, einen Umschlag mit Malvorlagen und einem Liedtext zu schicken. Der Kita-Träger, der nach 7 Wochen prüft, ob es nicht doch eine App gibt, die ausreichend Datensicherheit garantiert. Und dann braucht es noch Wochen, bis alle Eventualitäten abgeklärt sind. So lange ist Funkstille. Auch wenn mich so was verzweifeln lässt … es geht mir nicht darum, zu verurteilen. Da steht mir a) nicht zu und ist b) nicht hilfreich. Da schaue ich lieber, was ich als Mutter und als Psychotherapeutin tun kann und nutze meine Energie und Zeit dafür. Es geht mir darum, zu verstehen, warum die “Mauerbauer” auf dem beharren was sie kennen, anstatt sich weiterzuentwickeln und “mit der Zeit zu gehen”. Denn nur was wir verstehen, können wir ändern. Der Wandel, so hört man oft sagen, beginnt in den Köpfen. Werfen wir einen Blick in die Köpfe der Mauerbauer…

… und finden eine traditionelle pädagogische Landschaft, auf der viele heilige Kühe grasen. “Heilige Kühe” – im übertragenen Sinne Tabus, Grundüberzeugungen und Werthaltungen, die verehrt werden, nicht angetastet werden dürfen und an denen nicht zu rütteln ist. An so einer heiligen Kuh kommt keine Veränderung vorbei. Da die ganze Herde den Rahmen sprengen würde, stelle ich hier nur die wichtigsten heiligen Kühe vor:

Heilige Kuh Nr. 1: Du darfst keinen Fehler machen! Wenn du etwas Neues machen möchtest, musst du vorher theoretische Überlegungen anstellen, die Umsetzung minutiös planen, alle Eventualitäten berücksichtigen, das Ganze konzeptuell einbinden und es von der Chefetage und von den Eltern absegnen lassen. Dein Projekt muss vor dem Start perfekt und abgesichert sein. Diese (typisch deutsche) Fehlerfeindlichkeit, Normierung und Regulierung erstickt jeden Innovationsgeist im Keim oder schickt ihn auf einen sehr langen Weg. So ein Vorgehen ist nicht krisentauglich. In einer Krise gilt es, mutig und entschlossen neue Wege zu beschreiten, auszuprobieren, dabei Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Die Lehrer/innen unseres Sohnes haben bereits in der ersten Woche nach dem Lockdown einen Chat auf die Beine gestellt, in dem Schüler/innen zueinander und zu den Lehrer/innen Kontakt aufnehmen konnten. Ein Schüler hat den Chat benutzt, um einzelne Mitschüler/innen zu beleidigen. Irgendwie lief das aus dem Ruder und war nicht mehr zu kontrollieren. Wir Eltern wurden dann angehalten, die Software zu deinstallieren. Jetzt nutzt die Schule einen Messenger-Dienst auf eine andere Art und Weise. Wenn man schnell und pragmatisch handelt, dann kann etwas schief gehen und es wird etwas schief gehen. Das ist nicht schlimm. Schlimm wäre nichts tun.

Heilige Kuh Nr. 2: Die außerfamiliären öffentlichen Lebenswelten der Kinder müssen von ihrer privaten Lebenswelt (Familie) getrennt sein. Dass eine Lehrer/in oder Erzieher/in einfach an der Haustür klingelt oder gar zu Besuch kommt grenzt an ein Tabu … so etwas macht man nicht … das ist nicht vorstellbar … . Die Frage des Kindes, ob es die Erzieherin zum Geburtstag einladen kann … Stille … man weiß nicht, was man sagen soll … vielleicht: “Hallo, Tabu”… stattdessen sagen wir “Schau mal Schatz, sie kann nicht zu allen Kindern zum Geburtstag kommen” und wissen, dass das nicht der Grund ist. Schulen/Kitas und Familien sind traditionell getrennte Lebensräume. Der Kontakt zu den Eltern ist sehr begrenzt und beschränkt sich auf den Elternabend, wenn es gut geht ein bis zwei Elterngespräche und ein Sommerfest. Die im Konzept meist vorhandene Erziehungspartnerschaft erweist sich in der Realität dann doch als klassische Elternarbeit. Dann kommt Corona …  und jetzt sind die Kinder für die Pädagog/innen nur in den Familien zu erreichen. Hier müssen Professionelle eine Heilige Kuh schlachten und auf die Familien und die Kinder aktiv zugehen, mit der Konsequenz, dass sich privat und öffentlich vermischen. Aber für die Kinder gab es übrigens diese Trennung nie. Und Eltern sind fähig, ihre Grenzen zu vertreten. Das Kind wird z.B. nicht im Elternschlafzimmer an der Videokonferenz teilnehmen, wenn die Eltern das nicht möchten.

Heilige Kuh Nr. 3: “Never Change a running System – even it is running bad”: Das deutsche Bildungssystem reagiert bekanntlich seeeeeeeeeeehr langsam auf eine veränderte Lebenswelt und neue Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften. Es ist zum Haareraufen, wie wenig die moderne Lernforschung (Bedeutung der Motivation der Kinder, Wichtigkeit der Individualisierung, zentraler Wirkfaktor ist die Lehrer-Kind-Beziehung…) Eingang in unsere Schulen und Kitas findet. Die Digitalisierung haben wir komplett verschlafen. Es gibt super Positiv-Beispiele … Schulen und Kitas im Aufbruch … ein Großteil der Institutionen lässt sich aber davon in ihrem Trott nicht stören. Dann kommt Corona. Jetzt geht ohne Beziehung, ohne Motivation, ohne Individualisierung und ohne die Nutzung digitaler Medien gar nichts mehr. Jetzt muss sich das Bildungswesen Veränderungen öffnen. Das ist echt eine Chance, die Corona uns jetzt bietet.

Um das Kindeswohl zu schützen müssen wir auf neuartige Herausforderungen innovative Antworten geben. Dies wird nur gelingen, wenn wir unsere heiligen Kühe vor uns hinstellen und sie von allen Seiten betrachten, um dann zu entscheiden, ob es Plätze außerhalb der pädagogischen Landschaft gibt, wo sie in Ehren altern können. Gemeinsam schaffen wir das!

 

Literatur: Schlehuber, Elke & Molzahn, Rainer: Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels. Warum wir ohne kulturelle Kompetenz nicht mit Veränderungen klar kommen. 2007. Gabal Verlag.