Die Corona-Krise löst bei manchen Panik aus, andere bleiben völlig gelassen. Und dann gibt es noch die, die irgendwo dazwischen liegen. Aber warum reagieren wir so unterschiedlich auf diese Krise?
Die Antwort liegt in unserem psychischen Immunsystem – das Schutzschild unserer Seele. Wie es körperliche Erkrankungen und ein somatisches Immunsystem gibt, das sie abwehrt, so gibt es auch ein psychisches Immunsystem, das Belastungen für die Psyche abwehrt. Die psychische Widerstandskraft ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Die meisten von uns kennen Menschen, die selbst schwerste traumatische Schicksalsschläge verkraftet haben, ja vielleicht sogar an ihnen gewachsen sind. Andere zerbrechen daran. Wie kommt dieser Unterschied zustande? Und wie können wir unser psychisches Immunsystem stärken?
Wer seine körperlichen Grundbedürfnisse befriedigt, stärkt sein somatisches Immunsystem. Wer seine psychische Widerstandskraft stärken will tut gut, seine psychischen Grundbedürfnisse zu kennen.
Grawe (Psychotherapieforscher) unterscheidet 4 Grundbedürfnisse: Bindung, Kontrolle & Orientierung, Selbstwertschutz & Selbstwerterhöhung, Lustgewinn und Unlustvermeidung. Alle vier Grundbedürfnisse haben angeborene neuronale Grundlagen. Das bedeutet, bereits ein Säugling setzt seine eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten so ein, dass diese Grundbedürfnisse möglichst befriedigt werden. Spannend, oder?
Das Bedürfnis nach Bindung: Wir sind soziale Wesen und haben das Bedürfnis dauerhafte Beziehungen zu emotional nahe stehenden Menschen einzugehen. Wir leben in Familien, haben Freunde und ordnen uns einer Gemeinschaft zu. Auch unsere Hormone, z.B. das ‘Kuschelhormon’ Oxytocin, sorgen dafür, dass Nähe mit Wohlgefühl verbunden ist.
Kontrolle & Orientierung: Ob es um unseren Tagesablauf, unsere Zukunft, unsere Arbeit oder um unsere Beziehungen geht: Wir wissen gerne, was Sache ist. Wir möchten planen, uns auf Geplantes und Vereinbartes verlassen können, wir möchten Einfluss nehmen können. Wir möchten verstehen, was passiert und wir möchten wissen, was auf uns zukommt.
Selbstwertschutz & Selbstwerterhöhung: Wir möchten für andere von Wert sein und Anerkennung finden. Wir sind neugierig, lernbegierig und auch ein bisschen eitel – das alles liegt aus gutem Grund in unserer Natur. Es bringt uns und unsere Gemeinschaft voran und sichert unser Überleben und unsere Fortpflanzung. Also tun und lernen wir gerne das, worin wir gut sind.
Lustgewinn & Unlustvermeidung: Diesem Grundbedürfnis zugrunde liegt die sog. “Gut-Schlecht-Bewertung”. Sie ist als “ständig aktiver Monitor des psychischen Geschehens” immer im Hintergrund aktiv. Das bedeutet: Alle Erfahrungen, die wir machen, werden automatisch dahingehend bewertet ob das was gerade passiert gut oder schlecht für uns bzw. angenehm oder unangenehm ist.
Kurz gesagt: Wir brauchen Freunde, möchten unser Leben im Griff haben, haben gerne Spaß haben und die Zuneigung und Anerkennung ist uns wichtig. Diese Grundbedürfnisse sind der Schlüssel um a) zu verstehen, was in Krisenzeiten passiert und b) warum manche Menschen krisenfester als andere sind.
Covid-19 – was passiert? Die Kontaktsperre tangiert unser Bedürfnis nach sicheren Bindungen. Zum einen können wir für uns wichtige Menschen nicht mehr real treffen, zum anderen werden relevante Bindungsbeziehungen wie unsere Partnerschaft oder die Beziehung zu unseren Kindern vielleicht konfliktreicher, weil wir ungewohnt viel aufeinander sitzen. Wir wissen nicht, wie es weitergeht, wie schlimm uns die Pandemie treffen wird, welche Maßnahmen die Regierung morgen beschließt … unser Bedürfnis nach Kontrolle & Orientierung wird (massiv) verletzt. Schon lange hat der Staat nicht mehr so in unser alltägliches Leben eingegriffen. Viele haben die Doppelbelastung von Kinderbetreuung und Home-Office und bleiben dann vielleicht in beiden Bereichen hinter ihren Ansprüchen zurück. Das kratzt am Selbstwert, zumindest erhöht es ihn nicht. Viele Dinge, die uns Spaß gemacht haben wie Kino, Theater, Sportstudio, Schwimmen gehen, Yogakurs oder auch nur die Treffen mit Freunden fallen weg – Unlust macht sich breit. Für den einen passiert all das mehr, für den anderen weniger. Da sind wir auch bei unseren individuellen Bewältigungskompetzenzen, also der Art und Weise, wie wir mit Krisen umgehen. Corona ist ein weites Feld 🙂 zu unserem individuellen Umgang mit Belastungssituationen in einem nächsten Beitrag mehr.
Deutlich wird: Die Corona-Krise verletzt alle psychischen Grundbedürfnisse. Stellen wir uns diese Grundbedürfnisse als Gefäße vor, die individuell mehr oder weniger gefüllt sind. Dann leuchtet es ein, dass Menschen die mit gut gefüllten Gefäßen in die Krise gehen, weitaus weniger von ihr mitgenommen werden. Sind meine Bedürfnis-Gläser gut gefüllt und die Corona-Krise nimmt davon etwas weg … bleibt immer noch genug drin, um mich wohl zu fühlen. Das ist eine Erklärung dafür, weshalb manche Menschen mit Panik und Stress reagieren, während andere die Ruhe selbst bleiben.
Eine gute Krisen-Prophylaxe ist also, für einen guten Füllstand unserer Bedürfnisgläser Sorge zu tragen. Auch in der Krise macht das Sinn. Statt also die fünfzigste Packung Klopapier zu kaufen … überlegen Sie lieber: Wie können Sie Ihre Zeit und Energie nutzen, um Ihre psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen?
.. und schreiben Sie Ihre Ideen gerne als Inspiration für andere in die Kommentare. Anderen helfen macht Freude (Bedürfnis nach Lustgewinn), macht klar, dass Sie etwas und was Sie tun können (Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung), helfen ist selbstwertdienlich und Sie gehen damit in Kontakt (Bindungsbedürfnis). Also … eine Inspiration für andere formulieren … und vier Fliegen mit einer Klappe schlagen 🙂
Bei uns gibt es eine Dorfgruppe als App, da stehen Mitglieder in unmittelbarer Nachbarschaft drinnen. Dort kann reingeschrieben werden, wer wo Hilfe braucht oder wer wo Hilfe anbieten kann. Ich bin gespannt, wie sie anläuft.