Das Virus ist gefährlich, ja, aber: Welchen Preis zahlen unsere Kinder?

Das Virus ist gefährlich, ja, aber: Welchen Preis zahlen unsere Kinder?

Die Corona-Krise greift tief in das Leben von Kindern und Jugendlichen ein. Gleichzeitig spielen ihre Rechte und Bedürfnisse in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle. Der Infektionsschutz geht vor – das wird bei der Umsetzung der Corona-Maßnahmen immer wieder formuliert. Unsere Kinder werden zu Objekten in der Eindämmung der Pandemie. Es wird nicht diskutiert, was der Lockdown und die Hygienemaßnahmen für Kinder bedeutet. Das ist bedenklich, denn: Kinder genießen in Deutschland einen besonderen Schutz. Dazu hat sich die BRD 1992 mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Das Kindeswohl muss bei allen staatlichen Entscheidungen, die sich auf Kinder auswirken können, vorrangig berücksichtigt werden (Art. 3, Abs. 1). Diese ist auch in Krisensituationen weiter gültig, soweit ich weiß. Jetzt gerät das Kindeswohl aus dem Blickfeld bzw. wird dem Infektionsschutz untergeordnet. Das ist dramatisch. Der hohe pädagogische Standard, den wir uns in Deutschland in unseren Betreuungs- und Bildungsinstitutionen mühsam erarbeitet haben, hat von heute auf morgen keine Wertigkeit mehr. Jetzt sind Hygienevorschriften maßgeblich in der pädagogischen Landschaft. Und die Pädagog/innen werden damit alleine gelassen. Sie geraten zunehmend in den Konflikt zwischen Kindeswohl und Infektionsschutz. Eine Erzieherin weiß, wie wichtig der/die vertraute Bezugserzieher/in für ein Kind ist – jetzt soll sie Notgruppen organisieren ohne Berücksichtigung dieses Kriteriums. Eine Lehrerin weiß, dass es ein innewohnendes Bedürfnis von Kindern ist,  in engem körperlichen Kontakt miteinander zu spielen und zu lernen – jetzt muss sie zu Abstand mahnen.

Ich bin keine Expertin für Virologie. Ich weiß nicht, wie es anders und besser gehen kann. Und Ich will und kann im Alleingang auch keine Lösungsvorschläge formulieren. Aber als Psychotherapeutin weiß ich, dass es so nicht geht. Und hierzu kann ich mich vor meinem fachlichen Hintergrund differenziert äußern.

Schließung der Kitas und Schulen

Seit 8 Wochen sind die Kitas und Schulen zu. Bei der schrittweisen Öffnung bleiben viele Kinder außen vor. Für viele Kinder ist das Wegbrechen ihrer sozialen Bezüge eine große Belastung. Vertraute Erzieher/innen, Lehrer/innen und Spielkameraden sind von heute auf morgen unvorbereitet einfach aus dem Leben der Kinder verschwunden. Dabei wissen wir, wie wichtig stabile und verlässliche (Bindungs)Beziehungen und Kontakt zu Gleichaltrigen für die Entwicklung eines Kindes sind. Viele Kinder brauchen dringend das Bildungsangebot der Kitas und Schulen – weil sie einen erhöhten Förderbedarf haben und/oder weil die Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung nicht ausreichend unterstützen können. Für manche Entwicklungsschritte gibt es Zeitfenster und sensible Phasen, da kann man nicht einfach mal ein halbes Jahr pausieren. Viele Eltern sind selber am Limit und können die Kinder nicht mehr gut emotional auffangen oder was Sinnvolles mit ihnen machen. Und auch bei den Kindern gibt es Risikogruppen: Kinder aus belasteten Familien, Kinder mit einer brüchigen Beziehungsgeschichte wie z.B. Frühgeburten, chronisch kranke Kinder, Pflegekinder oder Trennungskinder, Kinder die aus anderen Gründen einen besonders verlässlichen Rahmen brauchen. Für diese Kinder stellt der Lockdown eine besondere Entwicklungsgefährdung dar. Es gibt Kinderseelen, in denen wir gerade viel anrichten und es gibt Kinder, die wir gerade nachhaltig in ihrer Entwicklung schädigen. Natürlich nehmen nicht alle Kinder Schaden. Kinder, die gesund sind (also keinen erhöhten Förderbedarf haben) … Kinder, die zuhause den sicheren Ort finden, als der er gedacht ist … Kinder, deren Eltern die Zeit und die Kompetenz haben, sie in ihrer Entwicklung konstruktiv und liebevoll zu begleiten … Kinder, die im familiären Umfeld ausreichend Spielkameraden haben … Kinder, deren Eltern durch das Virus und die Folgemaßnahmen nicht zu sehr verängstigt/gestresst sind … all diese Kinder können eine monatelange Schließung und Kitas gut bewältigen. Es gibt ja auch Kinder, die ganz ohne Kita und Schule gut groß werden. Viele Kinder wachsen aber nicht unter diesen optimalen Bedingungen auf. Die brauchen jetzt den besonderen Schutz und die Fürsorge, die sie optimalerweise in Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen finden. Bei der Notbetreuung fallen viele Kinder durchs Raster. Wir lassen sie alleine in ihrer Not.

Schließung von psychosozialen Einrichtungen

Von heute auf morgen wurden psychosoziale Einrichtungen einfach geschlossen, ohne die Folgen zu bedenken. Für Kinder und Jugendliche mit körperlichen, psychischen, geistigen Beeinträchtigungen waren wichtige therapeutische Angebote nicht mehr zugänglich. Für die Kinder und deren Eltern sind regelmäßige Physiotherapie, Ergotherapie, Logotherapie, Psychotherpie… kein nice-to-have. Es sind elementare Fördermaßnahmen, die den Status-quo der Entwicklung eines Kindes stützen und eine Weiterentwicklung ermöglichen. Es gibt auch Kinder, bei denen es nicht Entwicklungsförderung geht, sondern um eine liebevolle Begleitung der letzten Lebenswochen/-monate der Kinder. Laut einem Artikel im Trierer Volkfreund vom 20.05. wurde die ehrenamtliche ambulante Kinderhospizbetreuung komplett eingestellt. Das ist erschütternd und für die betroffenen Familie eine Katastrophe.

Umsetzung des Infektionsschutzes (Hygienevorschriften und Abstandsregeln)

Derzeit wird die schrittweise Öffnung von Kitas und Schulen vorangetrieben. Das ist begrüßenswert. ABER: Die Einrichtungen sind verpflichtet, umfangreiche Infektionsschutzpläne auszuarbeiten und diese v.a. einzuhalten.

Eine rheinland-pfälzische Erzieherin hat schon vor Corona eine Facebook-Plattform für sich und für andere Erzieher/innen gegründet, um politisch aktiv zu werden und um öffentlich Stellung zu beziehen. Im Rahmen der Glücks-Kita-Gruppe informiert eine Erzieherin, Birgit Kern, Eltern und Kindern über die Bedingungen in den Notgruppen. Ich fasse  ihren Beitrag hier kurz zusammen: Die Notgruppen werden nach Anmeldung gefüllt. Dies bedeutet, dass die Kinder in der Regel nicht von ihrer Bezugserzieherin betreut werden und auch nicht mit den Kindern zusammen sind, mit denen sie am liebsten spielen. Auch wenn die Herzenserzieherin eines Kindes in einer anderen Gruppe in der Kita ist, darf es dieser nicht nahe kommen, um Infektionsketten nachvollziehbar zu machen. Dies gilt auch für den Kontakt zu liebgewonnenen Spielkameraden. Die Kinder dürfen sich in der Kita nicht frei bewegen, sondern müssen in dem ihnen zugewiesenen Gruppenraum bleiben. Die Gartennutzung ist eingeschränkt. Die Übergabe eines Kindes erfolgt an der Tür. Auch wenn viele Kinder nach Wochen zuhause wieder eine elternbegleitete Eingewöhnung bräuchten – diese gibt es nicht. Unter Umständen werden die Erzieher/innen Mundschutz tragen. Abstand halten und Kontaktverbot gilt auch in der Kita. Körperliche Nähe soll auf ein Minimum reduziert werden. Trösten, helfen, pflegen und wickeln ist erlaubt … aber sich Ankuscheln, um gemeinsam ein Bilderbuch zu betrachten? Danke, Birgit Kern, für Ihren wertvollen Beitrag.

Ich möchte nur drei Punkte herausgreifen und fachlich kommentieren:

a) Übergabe eines Kindes an der Eingangstür: Wir haben es der Bindungsforschung zu verdanken, dass die elternbegleitete Eingewöhnung zum Qualitätsstandard in deutschen Krippen und Kitas geworden ist. Ein Elternteil bleibt so lange mit dem Kind in der Einrichtung, bis das Kind eine ausreichend vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Erzieherin aufgebaut hat. Nach zwei Monaten Kitaschließung ist die (emotionale) Erinnerung bei vielen Kindern an die Erzieher/innen und an die Kita verblasst. Zwei Monate sind im Leben eines Kindes eine unglaublich lange Zeit. Jetzt soll es wieder in die Kita. Viele Kinder, v.a. die Jüngeren bräuchten nun erneut, dass Mama oder Papa so lange bei ihnen bleiben, bis sie in der Kita wieder ausreichend emotionale Sicherheit finden. Das geht zur Zeit nicht, da die Eltern die Kita nicht betreten dürfen. Hier sind wir nun wirklich an der Grenze zur Traumatisierung oder in Einzelfällen auch über diese hinaus. Wird ein Kind in die Kita-Betreuung gegeben, ohne vertrauensvolle sichere Bindung zu mindestens einer Erzieherin, erlebt es großen inneren Stress und Angst. Diese Angst kann es nicht alleine bewältigen. Die Erzieherin kann es zur Regulierung nicht nutzen, da sie nicht (mehr) ausreichend vertraut ist (versuchen Sie mal, ein kleines Kind, mit dem sie nicht ausreichend vertraut sind, in großer emotionaler Not zu beruhigen… das klappt nicht…). Das Kind spaltet die überwältigende Angst ab … und funktioniert oft scheinbar … irgendwann “beruhigen” sich auch weinende und schreiende Kinder … nur dass es keine echte Selbstberuhigung ist … sondern die Kinder trennen sich von ihren Gefühlen. Das hat die bekannten Folgeschäden. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum das, was wir uns jahrelang als pädagogische Standards erarbeitet haben, nun plötzlich nicht mehr gilt bzw. dem Infektionsschutz geopfert wird.

b) Das Tragen von Masken im Kontakt mit Kindern: Wenn Sie kleine Kinder haben und/oder mit Kindern arbeiten, kennen Sie das: Passiert etwas, das ein Kind verunsichert, sucht es den Blickkontakt von Mama, Papa oder der Erzieherin. Sie “lesen” die Mimik der Erwachsenen, um einschätzen zu können, ob die Situation gefährlich ist oder nicht. Je jünger die Kinder, desto mehr sind sie darauf angewiesen, dass ihre Bindungspersonen mit ihrem Gesicht auf sie reagieren. Bleibt diese Reaktion aus, werden die Kinder unruhig und ängstlich. Ein Beleg der Entwicklungspsychologie ist das sogenannte “Still Face Experiment”, das mit Babys gemacht wurde. In besonders verunsichernden Situationen benötigen jedoch auch ältere Kinder noch die mimische Rückmeldung und die Rückversicherung “Es ist alles o.k.”. Wenn ich unsere Jüngste täglich in die Notbetreuung bringe, müssen ich und die Erzieherin in der Übergabesituation an der Tür eine Maske tragen. Für unsere Tochter mit ihren fast 6 Jahren und zweijähriger Kitaerfahrung ist das bewältigbar. Für viele andere Kinder wird diese Situation sehr belastend sein. Zum Glück tragen die Erzieher/innen innerhalb der Kita im Kontakt mit den Kindern keine Masken.

c) Abstandsregeln für Kinder: Kinder sind sozial – sie brauchen den Kontakt zu Ihresgleichen und zu ihnen wichtigen Erwachsenen. Kinder sind körperlich – sie möchten berühren, Körperkontakt, auf den Schoss genommen, in den Arm genommen werden, sich aneinander kuscheln. Was macht es mit unseren Kindern, wenn ihre impulsive und ihnen innewohnende Annäherung immer wieder unterbunden wird? Wenn sie immer wieder ermahnt werden, Abstand zu halten. Das Aufsuchen körperlicher Nähe ist evolutionär in unseren Kinder verankert. Ursprünglich war ein Kind nur in enger körperlicher Nähe wirklich sicher. Das Aufsuchen körperlicher Nähe ist also ein Schutzmechanismus. Unterbindet man dies, erzeugt es Stress, Cortisol wird ausgeschüttet. Aus der Säuglings- und Kleinkindforschung ist bekannt, dass Kinder natürliche Verhaltensimpulse (auf Kosten hohem inneren Stress) einstellen, wenn diese immer wieder unterbunden bzw. negativ konnotiert werden. Erwachsene müssen so was noch nicht einmal aussprechen – Kinder spüren, wenn ein Verhalten unerwünscht ist und stellen das Verhalten im Sinne von Kooperation (und im Dienste des Überlebens) ein.  Eine Gefahr ist also, dass unsere Kinder verinnerlichen, dass körperliche Nähe unerwünscht bzw. “schlecht” ist und das sie ihr Verhalten entsprechend anpassen. Eine andere Perspektive ist, dass Kinder – je jünger, desto mehr – den körperlichen Kontakt brauchen, um sich emotional zu regulieren, zu beruhigen, zu entspannen. Eine weitere Gefahr ist also, dass der innere Stresspegel eines Kindes unter den gegebenen Abstandsbedingungen in Schulen und Kitas deutlich erhöht ist.

Die Abstandsregeln werden in RLP zum Glück dem Alter der Kinder angepasst. In der Kita unserer Jüngsten müssen die Kinder innerhalb einer Notgruppe zueinander keinen Abstand halten und auch die Erzieher/innen haben klar, dass sie körperliche Nähe zulassen bzw. je nach Bedarf auch anbieten. Wobei viele Erzieher/innen da sicherlich innerlich gebremst und in Konflikt mit den Hygienevorschriften sind. Kinder sind kleine Seismographen für unsere Gefühlszustände. Sie spüren – auf dem Schoss sitzend und mit der Erzieherin ein Bilderbuch betrachtend – wenn die Erzieherin in dieser Situation angespannt ist. Und sie beziehen das Wahrnehmen von “etwas ist gerade falsch/dürfte so nicht sein” auf sich = “Ich mache etwas falsch”. Das ist eine weitere Gefahr: Dass (zu Recht) verunsicherte Erzieher/innen den Kindern ambivalente Signale senden. Was die Kinder nicht dürfen: sich einer Erzieherin nähern, die zwar in der Kita, aber nicht in ihrer Notgruppe ist. Man kann Kindern das mit Corona erklären, die Gefahr ist, dass vor allem jüngere Kinder das nicht wirklich verstehen und einordnen können.

In der Grundschulklasse unserer Mittleren gilt klar: Die Kinder müssen in der Schule Abstand halten, sie dürfen sich nicht berühren und nicht in körperlicher Nähe zusammen arbeiten und spielen. Die Pädagog/innen dürfen sich den Kindern nähern, tragen dann aber einen Mundschutz, den sie abnehmen, wenn sie sich wieder entfernen. Für ein paar Wochen ist das Grundschulkindern sicher zumutbar – aber wenn die Hygienevorschriften so beibehalten werden, bis in einem halben oder in einem Jahr ein Impfstoff zur Verfügung steht, dann wird den Kindern schon viel an normalem Schulalltag genommen. Und dann ist auch hier die Gefahr, dass sich ungünstige Kontaktmuster etablieren. Dann wird Abstand zur sozialen Normaliät und verinnerlicht.

Dann gibt es noch die schrecklichen Bilder, die gerade im Netz kursieren und die leider immer wieder als real bestätigt werden. Grundschulkinder, die im Schulhof in der Pause mit Maske auf einem Strich stehen müssen, manche Schulen stellen den Kindern wenigstens ein Rechteck zur Verfügung, in dem sie sich bewegen können. Diese Bilder verletzen meine persönliche Grenze massiv – und da gibt es auch nichts fachlich zu kommentieren. Es gibt Dinge, die darf man mit Kindern einfach nicht machen. Punkt. Solche Regeln rechtfertigt auch kein Virus. Kinder vertrauen uns und sie sind von uns abhängig. In der Regel kooperieren sie und machen, was wir von ihnen wollen. Diese Macht dürfen wir nie missbrauchen.

Ich möchte mit diesem Artikel meinen kleinen Beitrag leisten, um die Situation unserer Kinder in Zeiten von Corona aus psychologischer Perspektive unter die Lupe zu nehmen. Diese Sorgfalt haben unsere Kinder verdient. Meine Grundhaltung ist: Kinder sind resilient und können vieles bewältigen. Aber wir dürfen nicht alles mit ihnen machen. Und: Kinder sind unterschiedlich. Was das eine Kind gut bewältigt, kann für das andere eine (innere) Katastrophe sein. Dieser Artikel erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Situation der älteren Kinder und Jugendlichen findet in ihm zu wenig Berücksichtigung und auch die Situation der pädagogischen Fachkräfte, die von der Politik (wie die Kinder) alleine gelassen werden.

Erst heute habe ich ein aktuelles Statement der rheinland-pfälzischen Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) zur Wiedereröffnung von Kitas und Schulen gelesen. Sie sagt klar: (Infektions)Schutz und Gesundheit gehen vor. Aber: “Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht alleine das Fehlen von Krankheit” (WHO). Und: Laut Kinderrechtskonvention muss das Kindeswohl vorrangig berücksichtigt werden.

Gemeinsam schaffen wir es nur, wenn wir unsere Kinder mit ins Boot nehmen – und wenn wir ihnen in diesem Boot die besten und sichersten Plätze zukommen lassen und für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und für die Einhaltung ihrer Rechte Sorge tragen! Sonst ist es nicht gemeinsam – da können wir so engagiert solidarisch sein, wie wir wollen!

Von Aleppo bis Corona: Wenn wir wollen, dann geht was!

Von Aleppo bis Corona: Wenn wir wollen, dann geht was!

Waad al-Kateab bekommt ihr erstes Kind mitten im Syrien-Krieg. Über fünf Jahre filmt sie ihr Leben im belagerten Aleppo. Sie macht daraus ein filmisches Tagebuch für ihre Tochter Sama: “Für Sama”. Die ARD berichtet in Panorama über die Doku und zeigt Ausschnitte. “Für Sama” zeigt unerträgliche Szenen aus dem Innersten des Krieges, erschüttert und geht unter die Haut. Eigentlich sollte der Film jetzt in den deutschen Kinos anlaufen, das wurde wegen der Corona-Pandemie aber erst mal gestoppt.

Warum ich darüber berichte? Weil die Filmszenen auch mich erschüttern … und mich sehr nachdenklich machen. Waad al-Kateab zu Beginn ihrer Doku: “Wir haben nicht gedacht, dass die Welt dies zulassen würde”. Wir haben es zugelassen. Wäre es wirklich nicht möglich gewesen, einzugreifen, zu helfen?

Es war so oft so vieles nicht möglich … und jetzt zeigt die Corona-Pandemie was möglich ist, was wir möglich machen können, wenn wir wollen. Es ist möglich

  •  die Wirtschaft runterzuschrauben und in Kauf zu nehmen, dass das Bruttoinlandsprodukt einbricht
  •  unseren Konsum einzuschränken, in dem wir die Geschäfte schliessen
  •  das Prinzip “Wachstum” außer Kraft zu setzten
  •  massenhaft Geld z.B. für die Unterstützung der Wirtschaft auszugeben (was vorher z.B. für Schulsanierungen auf gar keinen Fall da war …)
  •  den Verkehr herunterzufahren und den Flugverkehr so gut wie ganz einzustellen
  •  die Schulen für Monate zu schließen und die Digitalisierung des Unterrichts voranzutreiben

Das Argument “kann man nicht machen” ist jetzt obsolet … man wird es nach der Pandemie so nicht mehr verwenden können und das ist gut so. Spätestens jetzt müsste jedem klar sein, dass das schon immer nur eine faule Ausrede fürs Nichtstun war.

Es ist nicht nur Syrien. Ich erinnere mich an die Schreckensbilder aus Äthiopien, Ruanda, Bosnien, Somalia. Kinder, die bis auf die Knochen abgemagert waren, Kinder und Erwachsene, die täglich zu tausenden starben, umgebracht wurden. Und wir? Wir haben unsere Welt nicht angehalten. Auch ich habe meine kleine Welt damals nicht angehalten.

“Die Würde des Menschen ist unantastbar” – so steht es in unserem Grundgesetz. Und wir berufen uns darauf, um die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu rechtfertigen. Niemand soll über das Leben eines anderen entscheiden, wenn z.B. nicht genug Beatmungsplätze vorhanden sind. Aber wie ist es mit der Würde von Menschen in den Krisengebieten dieser Welt? Und was, wenn diese Menschen, wie z.B. 2015 zu uns wollen und hier Sicherheit suchen. 2015 war schon viel möglich aber viel eben auch nicht. Es wäre schon so oft so viel mehr möglich. Und ja, das bedeutet wie jetzt auch, dass es für uns die Privilegierten zu Einschränkungen kommt. Das ist aber Jammern auf hohem Niveau.

Die Situationen sind komplex und es gibt keine einfachen Lösungen, aber was jetzt nicht mehr geht ist das Totschlagargument “Es ist nicht möglich”.

Auch auf individueller Ebene höre ich in Psychotherapien oft, dass etwas nicht geht. Das kann man/ich nicht machen. Den unbefriedigenden ungeliebten Job aufgeben. Eine Beziehungen anfangen oder beenden, woanders hinziehen. Es sind immer die gleichen Mechanismen, die dazu führen am Status quo festzuhalten, die Unsicherheit nicht zu wagen, der Angst nicht zu begegnen, das Risiko nicht einzugehen, das Scheitern nicht zu riskieren. Manchmal zeigen Krisen, dass es auch anders, ganz anders, geht – sowohl gesellschaftlich wie auf individueller Ebene!

Lasst es uns gemeinsam möglich machen – immer wieder!

Lyrik als Selbstfürsorge – ein wunderschöner Text von Charlie Chaplin und einen lieben Dank an die Kita St. Paulin! Was beides miteinander zu tun hat, erfahrt ihr im Beitrag :-)

Lyrik als Selbstfürsorge – ein wunderschöner Text von Charlie Chaplin und einen lieben Dank an die Kita St. Paulin! Was beides miteinander zu tun hat, erfahrt ihr im Beitrag :-)

In dieser herausfordernden Zeit ist es ganz besonders wichtig, sich noch einmal ganz bewusst um sich und sein Wohlbefinden zu kümmern. Die Kita unserer jüngsten Tochter hatte dazu eine liebe Idee. Sie hängten gestern für große Menschen “Auszeit-Tüten” an den Zaun und für kleine Menschen kindgerechte kleine Geschenke. Jeder durfte sich was vom Zaun “pflücken”. Für mich war und ist Lyrik schon immer eine Quelle der Selbstfürsorge. Wie schön und passend, dass ich in meiner Auszeit-Tüte neben einem Teebeutel und einem Teelicht einen wunderschönen Text von Charlie Chaplin fand, den ich noch nicht kannte. Den teile ich gerne mit euch – zusammen mit einem lieben Dankeschön an die Kita St. Paulin!

Als ich mich selbst zu lieben begann

“Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich verstanden, dass ich immer und bei jeder Gelegenheit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort bin und dass alles, was geschieht, richtig ist – von da an konnte ich ruhig sein. Heute weiß ich: Das nennt man “Vertrauen.
Als ich mich selbst zu lieben begann, konnte ich erkennen, dass emotionaler Schmerz und Leid nur Warnungen für mich sind, gegen meine eigene Wahrheit zu leben. Heute weiß ich: Das nennt man “authentisch sein”.
Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, mich nach einem anderen Leben zu sehnen und konnte sehen, dass alles um mich herum eine Aufforderung zum Wachsen war. Heute weiß ich, das nennt man “Reife”.
Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, mich meiner freien Zeit zu berauben, und ich habe aufgehört, weiter grandiose Projekte für die Zukunft zu entwerfen. Heute mache ich nur das, was mir Spaß und Freude macht, was ich liebe und was mein Herz zum Lachen bringt, auf meine eigene Art und Weise und in meinem Tempo. Heute weiß ich, das nennt man “Ehrlichkeit”.
Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich mich von allem befreit, was nicht gesund für mich war, von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von Allem, das mich immer wieder hinunterzog, weg von mir selbst. Anfangs nannte ich das “Gesunden Egoismus”, aber heute weiß ich, das ist “Selbstliebe”.
Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich aufgehört, immer recht haben zu wollen, so habe ich mich weniger geirrt. Heute habe ich erkannt: das nennt man “Demut”.
Als ich mich selbst zu lieben begann, habe ich mich geweigert, weiter in der Vergangenheit zu leben und mich um meine Zukunft zu sorgen. Jetzt lebe ich nur noch in diesem Augenblick, wo ALLES stattfindet, so lebe ich heute jeden Tag und nenne es “Bewusstheit”.
Als ich mich zu lieben begann, da erkannte ich, dass mich mein Denken armselig und krank machen kann. Als ich jedoch meine Herzenskräfte anforderte, bekam der Verstand einen wichtigen Partner. Diese Verbindung nenne ich heute “Herzensweisheit”.

Wir brauchen uns nicht weiter vor Auseinandersetzungen, Konflikten und Problemen mit uns selbst und anderen fürchten, denn sogar Sterne knallen manchmal aufeinander und es entstehen neue Welten. Heute weiß ich: “Das ist das Leben”!

Rede von Charlie Chaplin anlässlich seines 70sten Geburtstag am 16. April 1959. Gefunden von Karin Kokot.

Gewaltfreie und respektvolle Kommunikation in sozialen Medien?! Nur so schaffen wir es gemeinsam!

Gewaltfreie und respektvolle Kommunikation in sozialen Medien?! Nur so schaffen wir es gemeinsam!

Hmmm … ich stelle heute einfach mal unseren neu erworbenen Friedensstock ins Netz. Er hilft uns und den Kindern, unsere Konflikte respektvoller und friedlicher zu klären. Weniger Vorwürfe, Bewertungen und Beschimpfungen – stattdessen das Formulieren der eigenen Wahrnehmung, Gefühle, Bedürfnisse und Bitten. Das zeichnet gewaltfreie Kommunikation aus – und ist das Herzstück der Übernahme persönlicher Verantwortung. Gerade in Krisenzeiten, wenn die Emotionen hochkochen, ist beides eine große Herausforderung.

Ich bin gerne und viel in sozialen Netzwerken unterwegs. Ich mag es, über FB & Co in Verbindung zu bleiben mit Menschen, die ich real nicht so häufig treffen. Ich liebe es, miteinander zu teilen, was uns gerade beschäftigt. Ich schätze Meinungsvielfalt und den Austausch von Informationen. Zur Zeit erschüttert mich die Entwicklung in den sozialen Netzwerken. So viele Beiträge drehen sich darum, wer der oder die beste Staatsbürger/in ist, wer sich am solidarischsten verhält, wer Risikogruppen am engagiertesten schützt, wer die Gefahr des Virus besser als andere einschätzt, wer die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit mehr Weisheit beurteilen kann … und wer bezüglich all dieser Punkte ein Looser ist, ein sozialer Trittbrettfahrer. Manchmal schaue ich vermeintlich witzige Videos von Menschen, die  Andersdenkende lächerlich machen. Mich amüsieren diese Videos nicht, sie machen mich traurig. Sie verletzen mein Bedürfnis nach einem respektvollen Umgang miteinander, nach Freiheit und nach Vielfalt. “Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden” – auch wenn das Zitat von Rosa Luxemburg historisch in seiner ursprünglichen Bedeutung umstritten ist – für mich hat es in der Bedeutung, die wir ihm in einer Demokratie beimessen Gültigkeit und einen hohen Wert.

Unsere menschliche Wahrnehmung ist immer begrenzt und auch die Wahrheiten, zu denen wir finden. Wir müssen uns innerlich positionieren, sonst sind wir im Alltag nicht handlungsfähig. Wenn ich keine Kriterien für meinen Wocheneinkauf habe, stehe ich völlig überfordert in unseren riesigen Supermärkten. Wenn ich nicht klar habe, was für mich in der Kindererziehung wichtig ist, bin ich in der Begleitung der Kinder orientierungslos. Wenn ich in meiner Arbeit als Psychotherapeutin auf kein Konzept zurückgreifen kann, habe ich für meine Klient/innen kein hilfreiches Werkzeug und keine klare Grundhaltung zur Hand. Und natürlich ist das ein oder andere Konzept, die ein oder andere innere Wahrheit mehr oder weniger erforscht und überprüft. Immer aber ist es zeitlich begrenztes Wissen – so lange, bis wir neue Erkenntnisse haben – wissenschaftlicher oder persönlicher Natur. Diese Bescheidenheit sollten wir vielwissenden Menschen nie verlieren!

Ich muss mich auch zu den Covid-19 Maßnahmen innerlich positionieren, um für unsere Familie und für unsere Kinder einen Umgang damit zu finden, der uns gerecht wird. Ich muss mich innerlich positionieren, um überhaupt einen aktiven Umgang mit Corona pflegen zu können – ist doch gerade ein aktiver und eigenverantwortlicher Umgang mit Krisen die zentrale Voraussetzung für ihre Bewältigung. Zu mir und Covid-19: Ich bin keine Systemgegnerin – im Gegenteil: Ich lebe gerne und gut in diesem System (in dem Bewusstsein, dass ich aufgrund mehrerer Faktoren privilegiert bin). Für vieles bin ich – auch vor dem Hintergrund unserer zahlreichen Reisen – einfach unglaublich dankbar. Ich bin dankbar dafür, dass unser Müll regelmäßig abgeholt wird. Ich bin dankbar dafür, dass unsere drei Kinder qualitativ hochwertige, kindgerechte und liebevolle Bildungsinstitutionen besuchen dürfen. Ich bin dankbar, dass wir auf ein gutes Gesundheitssystem zurückgreifen können, wenn wir krank sind – und uns keine Sorgen um die Behandlungskosten machen müssen. Das sind nur wenige Beispiele meiner täglichen Dankbarkeitspraxis. Natürlich bin ich auch systemkritisch – und versuche, da wo ich kann, Einfluss zu nehmen und die Welt ein kleines Stück mitzugestalten. Ich habe keinen rosaroten, aber positiven Blick auf unsere Welt – zumindest bemühe ich mich darum immer wieder. Ich bin auch dankbar für den Lockdown – vermutlich war das erst mal ein guter Schritt, der uns als Gesellschaft geschützt hat. Inzwischen wünsche ich mir einen breiteren und offeneren Diskurs aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Perspektiven. Vielleicht gäbe es intelligentere und differenzierte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Das ist aber meine Meinung als Laie. Ich bin keine Expertin, die die Gefahr von Covid-19 und die Angemessenheit von Maßnahmen einschätzen kann. Das weiß ich. Expertin bin ich als Psychologin für die psychischen und sozialen Bedürfnisse von kleinen und großen Menschen. Hier vertrete ich eine klare Haltung. Die Rechte von Kindern finden in der Corona-Pandemie zu wenig Berücksichtigung. Dies beklagt auch der Kinderschutzbund. Autoren eines Spiegel-Artikels sprechen von einem “schweren Schlag gegen das Kindeswohl und verfassungsrechtlich höchst bedenklich”. Kinder sind in besonders intensiver Weise auf unsere Fürsorge und auf unseren Schutz angewiesen. Zu einer gesunden Entwicklung benötigen sie vielfältige soziale Kontakte, Konstanz von Bindungsbeziehungen, Spielkamerad/innen, eine anregungsreiche Umgebung und Menschen, die sie in ihrem (Selbst)Bildungsprozess aktiv begleiten. Kinder haben ein Recht auf Partizipation und auf Bildung. Der Lockdown mit den flächendeckenden Schließungen von Kitas und Schulen verletzt dieses Recht massiv. Natürlich nehmen nicht alle Kinder dadurch Schaden. Gesunde Kinder (ohne erhöhten Förderbedarf), die zuhause den sicheren Ort finden, der er sein sollte, mit ausreichend Spielkameraden im familiären Umfeld und mit Eltern, die ausreichend Kapazität für ihre Begleitung haben, können eine monatelange Schließung von Kitas und Schulen gut bewältigen. Es gibt ja auch Kinder, die ganz ohne Kita und Schule gut groß werden. Viele Kinder wachsen aber nicht unter diesen optimalen Bedingungen auf. Viele, zu viele, werden gerade nachhaltig in ihrer Entwicklung geschädigt. Das ist dramatisch … und kann durch eine Notbetreuung auch nicht aufgefangen werden, zumal hier viele Kinder durchs Raster fallen. Neben den Kindern gibt es andere psychosoziale Risikogruppen, die durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gefährdet sind: Obdachlose, psychisch kranke Menschen, Pflegebedürftige … um nur ein paar zu nennen. Der Schutz von Kindern und anderen psychosozialen Risikogruppen muss dem Schutz von Corona-Risikogruppen gleichgestellt sein!

Nochmal zu Kindern: Bitte keine Abstandsregeln und keine Masken für Kinder! Der Garten des Kindergartens unserer Jüngsten ist mit einem roten Absperrband unterteilt. Die Kinder der einen Notgruppe dürfen nicht mit den Kindern der anderen Notgruppe spielen. Zum Glück müssen die Kinder innerhalb einer Notgruppe keinen Abstand voneinander halten. Grundschulkinder müssen das aber. Sie dürfen sich nicht berühren, nicht nebeneinander sitzen, nicht zusammen arbeiten. Das macht mir als Psychologin echt Bauchschmerzen!

Der Friedensstock wurde entwickelt von Tassilo Peters. Er soll Familien, Kindergärten und Schulen helfen, gewaltfreie Kommunikation im Alltag zu leben.

Habt einen schönen Tag und lasst es uns respektvoll, friedlich und gemeinsam schaffen!

 

Wie die “heiligen Kühe” des Bildungswesens in Zeiten von Corona den Weg zu den Kindern versperren. Liebe Schulleitungen, Erzieher/innen und Lehrer/innen – lasst ihn uns gemeinsam freiräumen. Die Kinder brauchen euch jetzt.

Wie die “heiligen Kühe” des Bildungswesens in Zeiten von Corona den Weg zu den Kindern versperren. Liebe Schulleitungen, Erzieher/innen und Lehrer/innen – lasst ihn uns gemeinsam freiräumen. Die Kinder brauchen euch jetzt.

Kinder genießen in Deutschland einen besonderen Schutz. Dazu hat sich die BRD 1992 mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet. Das Kindeswohl muss bei allen staatlichen Entscheidungen, die sich auf Kinder auswirken können, vorrangig berücksichtigt werden (Art. 3, Abs. 1). Diese ist auch in Krisensituationen weiter gültig, soweit ich weiß.

Derzeit genießen alte Menschen und andere Risikogruppen einen besonderen Schutz. Das ist auch richtig so und wird von kaum jemandem in Frage gestellt. Die gesellschaftliche Solidarität und die Bereitschaft sich für andere einzuschränken ist groß. Es darf aber nicht passieren, dass das Kindeswohl bei den staatlichen Entscheidungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie aus dem Blickfeld gerät. Aber genau das passiert. Die Kinder haben in der Diskussion um die Corona-Maßnahmen keine Stimme und keine Lobby. Und dabei handelt es sich um staatliche Entscheidungen, die sich massiv und einschneidend auf Kinder auswirken.

Seit 6 Wochen sind die Kitas und Schulen zu. Die Kitas bleiben voraussichtlich bis zu den Sommerferien geschlossen, ebenso die Grundschulen für die erste bis einschließlich dritte Klasse. Das wird eben mal so in einer Pressekonferenz mitgeteilt. Ende der nicht vorhandenen Diskussion. Wenn Gefahr im Verzug ist, ist auch keine Zeit für Diskussion – oder? Diskussion bedeutet, dass ein bestimmtes Thema aus verschiedenen Perspektiven untersucht wird. Es muss Zeit und Raum sein für die Untersuchung der Frage, was der Lockdown für unsere Kinder bedeutet – denn Kinder genießen in Deutschland einen besonderen Schutz. Sie müssen bei allen Entscheidungen, die sich auf sie auswirken können, besonders berücksichtigt werden.

Für viele Kinder ist das Wegbrechen ihrer sozialen Bezüge eine große Belastung. Vertraute Erzieher/innen, Lehrer/innen und Spielkameraden sind von heute auf morgen unvorbereitet einfach aus dem Leben der Kinder verschwunden. Dabei wissen wir, wie wichtig stabile und verlässliche (Bindungs)Beziehungen und Kontakt zu Gleichaltrigen für die Entwicklung eines Kindes sind. Viele Kinder brauchen dringend das Bildungsangebot der Kitas und Schulen – weil sie einen erhöhten Förderbedarf haben und/oder weil die Eltern die Kinder in ihrer Entwicklung nicht ausreichend unterstützen können. Für manche Entwicklungsschritte gibt es Zeitfenster und sensible Phasen, da kann man nicht einfach mal ein halbes Jahr pausieren. Viele Eltern sind selber am Limit und können die Kinder nicht mehr gut emotional auffangen oder was Sinnvolles mit ihnen machen. Und auch bei den Kindern gibt es Risikogruppen: Kinder aus belasteten Familien, Kinder mit einer brüchigen Beziehungsgeschichte wie z.B. Frühgeburten, chronisch kranke Kinder, Pflegekinder oder Trennungskinder, Kinder die aus anderen Gründen einen besonders verlässlichen Rahmen brauchen. Für diese Kinder stellt der Lockdown eine besondere Entwicklungsgefährdung dar. Es gibt Kinderseelen, in denen wir gerade viel anrichten und es gibt Kinder, die wir gerade nachhaltig in ihrer Entwicklung schädigen. Das ist dramatisch.

In der Politik sind die Kinder und ihre Rechte aus dem Blickfeld geraten. Politisch aktiv zu werden ist jetzt sicher wichtig und eine Möglichkeit. Es gibt privat initiierte Petitionen, Demonstrationen und auch große Organisationen wie z.B. der Kinderschutzbund intervenieren – auch mit Blick darauf, dass viele Eltern am Limit sind und nicht mehr können.

Auf einer anderen Ebene ist es aber wichtig, mit dem was gerade ist, aktiv und eigenverantwortlich und im Sinne der Kinder umzugehen. Beziehungspflege und Bildungsangebote müssen nun von Trägern, Schulen und Kitas in neue Formate gegossen und über neue Wege transportiert werden. Das braucht Innovationskraft und einen mutigen und kreativen Pragmatismus. Krisen konfrontieren uns damit, auf neue Herausforderungen innovative Antworten zu geben. Gerade in Krisen ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen und das zu tun, was man im eigenen Wirkungskreis tun kann – als Schulleitung, Träger, Erzieher/in und auch als Elternteil.

Dafür gibt es aus den vergangenen Wochen ermutigende und inspirierende Beispiele: Die Lehrerin, die einfach an der Haustür klingelt und Arbeitsblätter doch eben mal persönlich vorbeibringt; Eine Erzieherin, die ihr Kitakind zuhause besucht – das ist ja erlaubt; Die Kita, die jeden Morgen zum gemeinsamen Morgenkreis per Videokonferenz einlädt; Der Erzieher, der seinen Bezugskindern alle paar Tage einen lieben Videogruß oder eine Sprachnachricht schickt; die Hortleiterin, die jede Woche anruft und fragt, wie es geht; Der Lehrer, der Einzelunterricht via Videotelefonat anbietet; Die Kita, die einmal pro Woche Essen kocht, das die Familien dann abholen können – weil das vertraute Kitaessen bei den Kindern eine emotionale Erinnerung weckt; Die Mutter, die jetzt das Gruppenfoto aus der Schublade gekramt hat und jeden Tag mit ihrem Kitakind die vielen Gesichter darauf betrachtet; Was haben diese Menschen gemeinsam? Der Wind der Veränderung weht … und sie bauen Windmühlen! Sie nutzen die Veränderungskraft für die Entwicklung neuer Wege für die ihnen anvertrauten Kinder. Und vielleicht entdecken sie dabei, es Spaß macht, neue Wege zu begehen und dass es dabei viel zu entdecken, zu lernen und zu entwickeln gibt. Veränderungen gehören zum Leben. Wir können uns dem Team “Mauerbau” anschließen oder dem Team “Windmühlen der Innovation und des Fortschritts”.

Aber warum gibt es doch auch so viele “Mauerbauer”? Das was früher war, geht jetzt nicht mehr … also machen wir die Schotten dicht … und machen nichts (oder fast nichts). Da sind Lehrer/innen, die verschicken einmal in der Woche das Wochenpensum. That´s it. Oder die Kita, die es 5 Wochen nach dem Shutdown geschafft hat, einen Umschlag mit Malvorlagen und einem Liedtext zu schicken. Der Kita-Träger, der nach 7 Wochen prüft, ob es nicht doch eine App gibt, die ausreichend Datensicherheit garantiert. Und dann braucht es noch Wochen, bis alle Eventualitäten abgeklärt sind. So lange ist Funkstille. Auch wenn mich so was verzweifeln lässt … es geht mir nicht darum, zu verurteilen. Da steht mir a) nicht zu und ist b) nicht hilfreich. Da schaue ich lieber, was ich als Mutter und als Psychotherapeutin tun kann und nutze meine Energie und Zeit dafür. Es geht mir darum, zu verstehen, warum die “Mauerbauer” auf dem beharren was sie kennen, anstatt sich weiterzuentwickeln und “mit der Zeit zu gehen”. Denn nur was wir verstehen, können wir ändern. Der Wandel, so hört man oft sagen, beginnt in den Köpfen. Werfen wir einen Blick in die Köpfe der Mauerbauer…

… und finden eine traditionelle pädagogische Landschaft, auf der viele heilige Kühe grasen. “Heilige Kühe” – im übertragenen Sinne Tabus, Grundüberzeugungen und Werthaltungen, die verehrt werden, nicht angetastet werden dürfen und an denen nicht zu rütteln ist. An so einer heiligen Kuh kommt keine Veränderung vorbei. Da die ganze Herde den Rahmen sprengen würde, stelle ich hier nur die wichtigsten heiligen Kühe vor:

Heilige Kuh Nr. 1: Du darfst keinen Fehler machen! Wenn du etwas Neues machen möchtest, musst du vorher theoretische Überlegungen anstellen, die Umsetzung minutiös planen, alle Eventualitäten berücksichtigen, das Ganze konzeptuell einbinden und es von der Chefetage und von den Eltern absegnen lassen. Dein Projekt muss vor dem Start perfekt und abgesichert sein. Diese (typisch deutsche) Fehlerfeindlichkeit, Normierung und Regulierung erstickt jeden Innovationsgeist im Keim oder schickt ihn auf einen sehr langen Weg. So ein Vorgehen ist nicht krisentauglich. In einer Krise gilt es, mutig und entschlossen neue Wege zu beschreiten, auszuprobieren, dabei Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Die Lehrer/innen unseres Sohnes haben bereits in der ersten Woche nach dem Lockdown einen Chat auf die Beine gestellt, in dem Schüler/innen zueinander und zu den Lehrer/innen Kontakt aufnehmen konnten. Ein Schüler hat den Chat benutzt, um einzelne Mitschüler/innen zu beleidigen. Irgendwie lief das aus dem Ruder und war nicht mehr zu kontrollieren. Wir Eltern wurden dann angehalten, die Software zu deinstallieren. Jetzt nutzt die Schule einen Messenger-Dienst auf eine andere Art und Weise. Wenn man schnell und pragmatisch handelt, dann kann etwas schief gehen und es wird etwas schief gehen. Das ist nicht schlimm. Schlimm wäre nichts tun.

Heilige Kuh Nr. 2: Die außerfamiliären öffentlichen Lebenswelten der Kinder müssen von ihrer privaten Lebenswelt (Familie) getrennt sein. Dass eine Lehrer/in oder Erzieher/in einfach an der Haustür klingelt oder gar zu Besuch kommt grenzt an ein Tabu … so etwas macht man nicht … das ist nicht vorstellbar … . Die Frage des Kindes, ob es die Erzieherin zum Geburtstag einladen kann … Stille … man weiß nicht, was man sagen soll … vielleicht: “Hallo, Tabu”… stattdessen sagen wir “Schau mal Schatz, sie kann nicht zu allen Kindern zum Geburtstag kommen” und wissen, dass das nicht der Grund ist. Schulen/Kitas und Familien sind traditionell getrennte Lebensräume. Der Kontakt zu den Eltern ist sehr begrenzt und beschränkt sich auf den Elternabend, wenn es gut geht ein bis zwei Elterngespräche und ein Sommerfest. Die im Konzept meist vorhandene Erziehungspartnerschaft erweist sich in der Realität dann doch als klassische Elternarbeit. Dann kommt Corona …  und jetzt sind die Kinder für die Pädagog/innen nur in den Familien zu erreichen. Hier müssen Professionelle eine Heilige Kuh schlachten und auf die Familien und die Kinder aktiv zugehen, mit der Konsequenz, dass sich privat und öffentlich vermischen. Aber für die Kinder gab es übrigens diese Trennung nie. Und Eltern sind fähig, ihre Grenzen zu vertreten. Das Kind wird z.B. nicht im Elternschlafzimmer an der Videokonferenz teilnehmen, wenn die Eltern das nicht möchten.

Heilige Kuh Nr. 3: “Never Change a running System – even it is running bad”: Das deutsche Bildungssystem reagiert bekanntlich seeeeeeeeeeehr langsam auf eine veränderte Lebenswelt und neue Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften. Es ist zum Haareraufen, wie wenig die moderne Lernforschung (Bedeutung der Motivation der Kinder, Wichtigkeit der Individualisierung, zentraler Wirkfaktor ist die Lehrer-Kind-Beziehung…) Eingang in unsere Schulen und Kitas findet. Die Digitalisierung haben wir komplett verschlafen. Es gibt super Positiv-Beispiele … Schulen und Kitas im Aufbruch … ein Großteil der Institutionen lässt sich aber davon in ihrem Trott nicht stören. Dann kommt Corona. Jetzt geht ohne Beziehung, ohne Motivation, ohne Individualisierung und ohne die Nutzung digitaler Medien gar nichts mehr. Jetzt muss sich das Bildungswesen Veränderungen öffnen. Das ist echt eine Chance, die Corona uns jetzt bietet.

Um das Kindeswohl zu schützen müssen wir auf neuartige Herausforderungen innovative Antworten geben. Dies wird nur gelingen, wenn wir unsere heiligen Kühe vor uns hinstellen und sie von allen Seiten betrachten, um dann zu entscheiden, ob es Plätze außerhalb der pädagogischen Landschaft gibt, wo sie in Ehren altern können. Gemeinsam schaffen wir das!

 

Literatur: Schlehuber, Elke & Molzahn, Rainer: Die heiligen Kühe und die Wölfe des Wandels. Warum wir ohne kulturelle Kompetenz nicht mit Veränderungen klar kommen. 2007. Gabal Verlag.