“Seit dem zweiten Weltkrieg gab es kein Thema, das zu solchen Spaltungen in der Bevölkerung geführt hat, wie in der “Corona-Krise”. Auf der einen Seite diejenigen, die Angst davor haben, dass sie selbst oder ihre Liebsten eine tödliche Erkrankung bekommen könnten (Covid19) und die bereit sind, für ihre Gesundheit große Opfer zu bringen, was ihre Bewegungsfreiheit und ihre sozialen Kontakte angeht. Auf der anderen Seite diejenigen, welche die von der Regierung betriebene Pandemie-Strategie für falsch halten, sich durch die Pandemie-Strategie existenziell bedroht fühlen  und die Einschränkungen … nicht (auf Dauer) akzeptieren wollen. Beide Gruppen reden kaum noch miteinander und die gegenseitigen Anfeindungen werden immer schriller. An dieser Krise lässt sich gut zeigen, was passiert, wenn ein traumatogenes Geschehen in einer Gesellschaft um sich greift und – mit allen Folgen für die Psyche, den Körper und die sozialen Beziehungen – Angst erzeugt: die Angst vor der gesundheitlich tödlichen Gefahr (hier: dem Virus) versus die Angst vor dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz bzw. der persönlichen Freiheiten, vor den Schäden durch die Corona-Maßnahmen z.B. auf Seiten der Kinder. In einer solchen Situation wollen es die meisten Menschen “richtig” machen. Es geht auf beiden Seiten um das, was sie “glauben” oder “nicht glauben”; bei den einen um die Unterordnung unter eine von “Mächtigen” vorgegebene Strategie; bei den anderen um das Gefühl, “aufgeklärter” zu sein als die anderen und der Überzeugung, die Regierung führe uns ins Unglück. Schon oft in der Geschichte gab es diese Konstellation, etwa in der Nazizeit. Interessanterweise werfen heute die einen auch jeweils den anderen vor, sich “wie Nazis” zu verhalten und die gesamte Bevölkerung in ein potenziell vernichtendes Geschehen zu treiben. Was steckt dahinter? Welche Übertragungen aus individuellen wie kollektiven Vor-Traumata werden hier geweckt?”

Das ist der Ausschreibungstext zu einem siebenstündigen Live-Seminar (“Corona-Krise und andere Kollektivtraumata”) mit Michaela Huber, Psychologische Psychotherapeutin und versierte Fachfrau für Traumabehandlung und Psychotraumatologie. Da mich der politische und gesellschaftliche Umgang mit Corona schon lange umtreibt, habe ich mich sofort angemeldet – geleitet von dem Bedürfnis, meine Wahrnehmungen, Gefühle, Zweifel, Ängste… zu sortieren und fachlich zu reflektieren und geleitet von dem Bedürfnis nach Austausch in einem Raum, der Perspektivenvielfalt nicht nur zulässt, sondern explizit als Bereicherung konnotiert.

Da ich den psychodynamischen Blick auf die Corona-Situation so unglaublich wichtig finde, fasse ich hier die Essenz des Seminars zusammen – das, was für mich wichtig war und ist – in meinen eigenen Worten. Denn: Wenn man ein Trauma nicht versteht, ist man gezwungen es zu wiederholen oder zu reinszenieren! Das will niemand. “Noch haben wir eine Demokratie”, so ein klarer Appell von Michaela Huber gegen Ende des Seminars. Aber wir müssen jetzt wachsam sein und unsere Demokratie schützen. Dazu kann jede und jeder beitragen – auch Du! Damit habe ich etwas vorgegriffen … also von vorne… .

Am Anfang steht die Angst. Covid19 ist neu … und alles Neue macht Angst. Und Covid19 ist für diejenigen, die daran schwer erkranken, eine lebensgefährliche Krankheit. Das ist eine wichtige Tatsache und natürlich auch beängstigend. Dazu kommt die mediale Angstmache, die uns mit grausigen Bildern konfrontiert. Nackte, spärlich bedeckte Menschen, die an Schläuchen und unter der Atemmaske um ihr Überleben kämpfen. Intensivpfleger/innen und Ärzt/innen, die in Schutzkleidung Krankenhausflure auf- und abrennen. Die Bilder von Bergamo … Militärlaster, die im Dunkeln hintereinander gereiht warten, um die vielen Toten aufzunehmen und abzutransportieren. Zu den angstverstärkenden Bildern ängstigende Worte: “Jeden Tag sterben so viele Menschen wie bei  einem Flugzeugabsturz” (Jens Spahn), eine neue “Welle” droht, die tägliche Meldung der Infektionszahlen – ohne diese ins Verhältnis zu setzen. Die mediale Angstmache ist leider explizit so gewollt. Ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums empfiehlt u.a. drastische Maßnahmen zur Krisenkommunikation. Die Regierung dachte sich: wenn wir den Menschen Angst machen, haben sie eine größere Bereitschaft, den Corona Maßnahmen zu folgen. Die angstverstärkende Berichterstattung der Medien kritisiert Michaela Huber scharf und bewertet sie als unethisches Verhalten. Es wird nicht benannt – zumindest nicht oft und nicht klar genug –  dass Covid19 für die allermeisten Leute keine tödliche Gefahr darstellt und dass es somit darum geht, die Leben der Älteren und Kranken zu schützen. Angst ist ein toxischer Stressor. Zu der Angst vor dem Virus kommt die Angst vor den Folgen der Corona-Maßnahmen, die Angst um die eigene Existenz, die Angst vor dem Verlust der Freiheit, die Angst vor der Zukunft, die Angst sich falsch zu verhalten. Zu der Angst als Stressor kommt der Stress durch die Bewältigung der Corona-Maßnahmen, insbesondere die Doppelt- und Dreifachbelastung durch Homeschooling, Kinderbetreuung und Homeoffice. Besonders kinderreiche und ressourcenarme Familien und Alleinerziehende trifft diese Belastung hart, aber auch so manch gut-situierte Eltern haben zu kämpfen. Für viele Kinder und Jugendliche brechen durch Kita- und Schulschließungen Tagesrhythmus, wichtige Bezugspersonen und der Kontakt zu Freunden weg. Junge Erwachsene, die sich ins Leben stürzen möchten, werden ausgebremst. Geplante Auslandsaufenthalte sind kaum möglich. Für Studienanfänger ist es schwer, unter Online-Bedingungen die so wichtigen sozialen Kontakte zu knüpfen.  Alte, behinderte und kranke Menschen leiden, weil ihn der Kontakt zu ihren Liebsten verboten wird. Trauma ist nicht durch ein Ereignis definiert. Trauma ist eine Wunde, die durch toxischen Stress entsteht. Und Stress ist toxisch, wenn er so massiv ist, dass unsere psychischen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert sind und zusammenbrechen. Toxischer Stress ist umso gravierender, wenn belastende Situationen a) lange andauern (die Corona-Krise ist nun ein Jahr alt), b) sich wiederholen (wiederholtes On-Off des gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens), c) auf Bindung und Beziehung als wichtigster Schutzfaktor nicht ausreichend zurückgegriffen werden kann (Social Distancing, Wegbrechen von wichtigen Bindungspersonen durch Schließung von Schulen, Kitas und anderen psychosozialen Einrichtungen, Besuchsverbote in Heimen und Krankenhäusern…) und d) das Ende nicht absehbar ist. Die Corona-Krise hat also ein großes Potenzial für die Entstehung oder Verschlimmerung individueller Traumatisierungen. Symptome sind: sich sehr ängstlich, traurig, wütend oder unruhig fühlen, Sorgengedanken, häufiges Weinen, Schlafstörungen, Alpträume, Konzentrationsschwierigkeiten, unerträgliche innere Spannungen, totale Erschöpfung und innere Leere. Natürlich werden nicht alle Menschen in der Corona-Krise durch toxischen Stress traumatisiert. Gefährdet sind v.a. die besonders Verletzlichen in unserer Gesellschaft: Menschen mit psychischen Vorbelastungen, einsame Menschen, Kinder (v.a. jene aus Familien mit multiplen Belastungen wie beengter Wohnraum, Armut, Sucht, psychische Erkrankung eines Elternteils…), alte und behinderte Menschen (v.a. in Heimen lebende), kranke Menschen (die z.B. im Krankenhaus nicht besucht werden dürfen) sowie all jene, deren Existenz durch die Corona-Maßnahmen auf dem Spiel steht.

Nicht alle laufen Gefahr, traumatisiert zu werden. Aber alle sind von Corona betroffen. Der Stresspegel in der gesamten Gesellschaft ist gestiegen. Hier sind wir auf der Ebene Kollektivtrauma – eine Wunde, die dadurch entsteht, dass eine Gruppe unerträglichen existenziellen Stress erlebt. Auf diesen Stress reagiert die Gesellschaft mit Spaltung – “Covidioten” und “Corona-Leugner” auf der einen, regierungstreue “Schlafschafe” auf der anderen Seite. Die Gruppen driften auseinander, es gibt kaum noch Berührungspunkte, die gegenseitigen Anfeindungen werden immer abwertender und skurriler.  Trauma und Spaltungsprozesse gehören zusammen. Spaltung und Polarisierung sind psychische Bewältigungsversuche. Die komplexe, belastende und ängstigende Wirklichkeit wird reduziert und erscheint somit bewältigbarer. “Wenn ich mich nur richtig verhalte … und jetzt weiß ich ja definitiv, was richtig ist … dann kann ich die Situation zum Positiven verändern”. So erobern wir uns das Gefühl von Kontrolle zurück. In sozialen Medien finden wir einen Resonanzraum und Gleichgesinnte. Wir fühlen uns in unserer Meinung bestätigt. Auch das gibt Sicherheit. Die verbleibende Angst verwandeln wir in Aggression. Die jeweils anderen sind die Unvernünftigen, die Bösen, die Täter, der Feind, der bekämpft werden muss. Kampfmittel sind Abwertung, lächerlich machen, Schuldzuweisung, Denunziation. Gesellschaftliche Spaltung in Krisensituationen ist gefährlich. Wenn sich zwischen Regierungstreuen und Regierungskritikern ein Graben auftut, ist das der Keimboden für Bürgerkrieg. Das meint Michaela Huber, wenn sie sagt: “Noch haben wir eine Demokratie. Aber wir müssen jetzt wachsam sein und unsere Demokratie schützen”. Bei Bürgerkrieg sind wir nicht und da wollen wir auch nicht hin. Deshalb sollten wir die Frühwarnzeichen sehr ernst nehmen.

Aber was tun mit diesen Frühwarnzeichen?

Der Blick der Psychotraumatologie auf die Corona-Krise wirft Fragen auf:

  • Wie könnten wir die vielfältigen Schäden, die durch die Corona-Maßnahmen entstehen vermeiden, vermindern oder vielleicht sogar heilen?
  • Wie könnten die sozialen Spaltungen möglicherweise überwunden werden?
  • Wie könnten wir versuchen, die traumatischen Folgen der Krise so gut wie möglich aufzufangen?

Auf diese Fragen werde ich in einem weiteren Artikel eingehen.

Damit wir es GEMEINSAM schaffen!