Bücher sind geistige Nahrung. In der Erziehungsliteratur gibt es viel Fast Food. Bücher die wenig Tiefgang haben, schnell geschrieben wurden und nicht nähren. Und es gibt die Perlen, die Bücher, die wirklich in die Tiefe gehen, für die Erziehung sich nicht in Techniken, Tools und sonstigem “so machen sie es richtig – und nur so” erschöpfen. Zu den letztgenannten gehört das Buch von Jesper Juul und Helle Jensen, in dem sie eine Veränderung der pädagogischen Landschaft, die ich ganz genau so in mir wiederfinde, beschreiben .
Gestern = in meinem Heranwachsen war: Eltern, Erzieher/innen, Lehrer/innen, die allein durch ihre Rolle Autorität hatten – das, was sie sagten, war maßgebend – Kinder hatten sich anzupassen – wer als Kind den Konflikt wagte, verlor.
Heute = in meinem Erwachsenen-Bewusstsein ist: Die rollenbedingte Autorität wurde von der persönlichen Autorität abgelöst. Im Kontakt mit unseren Kindern muss ich mich vertreten (Wer bin ich, was will ich, was will ich nicht, für was stehe ich …), bin nicht mehr geschützt durch meine Rolle als Mutter, der man einfach zu gehorchen hat. Mein Erziehungsziel ist nicht Anpassung, sondern eine gute Entwicklung unserer Kinder. Und bei Konflikten mit den Kindern habe ich mehr als einmal schmerzlich erlebt, dass auch ich der Verlierer bin, wenn unserer Auseinandersetzung meinerseits wesentliche Qualitäten fehlen.
Erziehung ist Beziehung – das ist es, was für mich die ganze Sache so herausfordernd macht. Und dafür – nahe, gesunde und aufrechte Beziehungen zu leben – hat mich die Erziehung, die ich erfahren habe, wenig gerüstet.
Es ist tröstlich / ermutigend?!, was Jesper Juul und Helle Jensen bereits in der Einleitung schreiben: Die Beziehungskompetenz ist auf beiden Seiten – beim Erwachsenen und beim Kind – nicht vollkommen entwickelt. Es gehe einfach darum, das Beste aus den Ausgangsbedingungen, die man mitbringt, zu machen.
Und darum bemühe ich mich nun, Tag für Tag. Klingt frustriert und mühsam, ist es aber nicht – eher freudvoll / lustvoll, gemeinsam mit den Kindern auf dem Weg zu sein.
Erziehung ist Beziehung. Erziehung braucht keine Erziehungsmethoden, sondern Beziehungskompetenz. Welche Kompetenz ist das? In Beziehung zu Kindern
- mich so verhalten, dass ich sowohl meine Integrität als auch die des Kindes intakt halte.Das bedeutet: Ich drücke meine Gefühle und Bedürfnisse aus; ich treffe Entscheidungen in Übereinstimmung mit meinen Werten und Zielen (bekommt das Kind ein 2. Eis – ja oder nein?); ich anerkenne die Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse des Kindes (ob das Kind das zweite Eis bekommt oder nicht ist dabei irrelevant – beides geht – anerkennen bedeutet nicht erfüllen).
- die Führung übernehmen, d.h. die meisten Entscheidungen treffen, Situationen strukturieren, anleiten … . Bei kleinen Kindern ist das noch ganz viel nötig, dann zunehmend weniger.
Das klingt ziemlich simpel und eigentlich ja selbstverständlich. In der Realität aber erlebe ich oft, wie Kinder für das, was sie fühlen, wollen und von sich zeigen verurteilt werden. Das sind dann Sätze wie “Mach nicht so ein Theater”, “Hör jetzt auf zu quengeln”, “Immer muss es nach deinem Kopf gehen”, “Immer willst du alles haben”, “Sei nicht so albern” , “Sag sofort Entschuldigung sonst …”, “Jetzt hör auf zu weinen – so schlimm war es nicht”. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb Jesper Juul und Helle Jensen formulieren:
Es wäre ein Quantensprung in der pädagogischen Praxis, wenn der natürliche Drang des Kindes sich selbst und somit sich selbst in Beziehung zu anderen zu finden, nicht mehr mit Scham und Schuld verbunden wäre!
Alles von sich zeigen dürfen – Wut, Verzweiflung, Trauer, Angst, Freude, Eifersucht, Enttäuschung, Stolz … – ohne dafür lächerlich gemacht, verurteilt oder gar bestraft zu werden – eine ganz neue Generation würde da heranwachsen.
Spannend auch der Blick von Juul und Jensen auf Ungehorsam:
Wenn Kinder sich anders verhalten, als wir es von ihnen erwarten, dann ist das oft “der erste Schritt des Kindes auf dem Weg zu Integrität”. Es bleibt sich selber treu und folgt seinen Impulsen, Wünschen und Zielen. Es wagt zugunsten seiner Integrität die Kooperation mit uns an diesem Punkt zu kündigen – das ist mutig und verdient Unterstützung!
Das ist so schwer, wenn wie heute morgen unsere Zweijährige trotz Verbot über den Kratzbaum der Katzen auf die Fensterbank klettert – dort die Gießkanne ergattert und hingebungsvoll die Pflanzen gießt – das Wasser mitsamt der Blumenerde überläuft – über die hölzerne Fensterbank, die ich wiederum gestern hingebungsvoll mit Öl behandelt habe – weiter auf den frisch geputzten Küchenboden … . Dann nicht die Krise kriegen und schimpfen, sondern ihr – in Anerkennung ihres positiven Impulses – entweder zeigen, wie`s geht oder beim Verbot bleiben und dennoch anerkennen, dass das Kind etwas Positives machen wollte, nämlich helfen, den Blumen Wasser geben….
Das ist so schwer, wenn unser Fünfjähriger nach einem “Nein” zu einem Wunsch von ihm nach mir schlägt und seine Spielsachen vor Wut durchs Zimmer wirft. Dann sein Verhalten nicht verurteilen, sondern ihn daran hindern weh zu tun oder etwas kaputt zu machen. Dann ihm helfen, seine Enttäuschung und Wut über den versagten Wunsch wahrzunehmen, anzuerkennen, Worte zu finden … .
Das ist so schwer und gelingt mir bei weitem nicht immer … aber immer öfter!
“Wir müssen aufhören, die Ungehorsamen zurück ins Glied zu rufen” so Juul und Jensen. “Wir müssen sie stattdessen an die Hand nehmen auf dem Weg zu sich selbst, über dessen Beschaffenheit und genaueres Ziel sie alles andere als im Klaren sind. Deshalb brauchen sie eine erfahrene Begleitung dorthin.”
“Aber Kinder müssen doch auch lernen, sich anzupassen und sich in eine Gemeinschaft einzufügen” – das ist ein Einwand, der in diesem Zusammenhang meist als erstes kommt. Juul widerspricht dem entschieden. Die angeborene Fähigkeit und der Wille der Kinder zu kooperieren macht, das sie das oft in einem erschreckenden Ausmaß tun. Sie stellen eigene Bedürfnisse und Gefühle zurück, um den Kontakt zu und die Fürsorge wichtiger Bezugspersonen nicht zu verlieren. Da ist das Baby, das nicht weint, weil es spürt, dass es die Mutter nicht belasten darf. Da ist das Kleinkind, das seine Eifersucht auf das neugeborene Geschwisterkind nicht zeigt, weil die Eltern ein harmonisches Familienleben brauchen. Kinder brauchen keine Erwachsenen, die ihnen helfen, sich anzupassen. Sie brauchen Erwachsene, die sie dabei unterstützen in Gemeinschaft mit anderen ihre Integrität zu wahren! Zuhause: Der Patenonkel bringt ein Geschenk – das Kind ist enttäuscht über den Inhalt – darf das sein – darf es seine Enttäuschung zeigen? Im Kindergarten: Alle Kinder sollen in den Stuhlkreis kommen – ein Kind ist gerade ganz vertieft in den Bau einer Lego-Konstruktion und möchte weiterbauen – darf das sein, geht das?
Aus der Perspektive ist kooperatives, angepasstes Verhalten oft eine Überlebensstrategie. Das bedeutet: das angepasste Verhalten basiert auf einer unbewussten Schlussfolgerung des Kindes. Um die Beziehung zu wichtigen Bezugspersonen nicht zu gefährden, werden eigene Bedürfnisse nicht mehr gezeigt. Vor diesem Hintergrund stimmt es sehr nachdenklich, dass zuhause und in den Institutionen meist nur die “Störenfriede” auffallen. All die Kinder, die kaum je eine Regel brechen, die nie gegen den Strom schwimmen, die nie einen Wutanfall bekommen, die alles gut mitmachen … werden meist dankbar als “gut angepasst” hingenommen. Dabei zahlen viele von ihnen laut Juul und Jensen auf existentieller Ebene einen hohen Preis: sie wagen es nie, sich im Konflikt zwischen Integrität und Kooperation (den wir alle ständig erleben) sich auf die Seite ihrer Integrität zu stellen.
Nach Juul und Jensen muss die Förderung der Integrität “zentraler Bestandteil jeder erzieherischen Praxis” sein. Ganz wichtig ist ihnen aber und auch mir: Es geht nicht darum, jedem Wunsch eines Kindes nachzukommen, um seinen Gefühlen und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Förderung von Integrität hat nichts mit Wunscherfüllung zu tun, sondern damit, Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und anzuerkennen. Ich kann wahrnehmen und anerkennen, dass das Kind gerade so wütend ist, dass es am liebsten etwas kaputt machen würde. Ich darf es trotzdem daran hindern. Damit verletze ich seine Integrität nicht. Ich kann wahrnehmen und anerkennen,dass das Kind gerade mit mir spielen möchte. Ich entscheide mich, jetzt lieber meine Zeitung zu lesen und frustriere das Kind. Damit verletzt ich seine Integrität nicht. Ich kann wahrnehmen und anerkennen, dass das Kind nicht mit in die Stadt möchte. Ich entscheide: “Du musst. Ich kann dich nicht alleine zuhause lassen.” Damit verletze ich seine Integrität nicht.
Jesper Juul und Helle Jensen vertreten: Es geht darum, mit der Gehorsamskultur zu brechen – in Verbindung mit einer erwachsenen Führung:
- “Kinder brauchen einen gleichwürdigen Dialog mit den Erwachsenen, um sich selbst zu finden. Und/oder
- Kindern den Frieden geben und die Zeit lassen, die sie brauchen, um sich selbst allein finden zu können.
- Ein Ohr und das Gespür dafür haben, wann Kinder damit herausplatzen, wozu sie im Moment die größte Lust oder Unlust haben, oder wann sie bloß den Freunden und Erziehern nach dem Mund reden.
- Wissen, wann die Wünsche der Kinder, ihr Wille und ihre Ziele tiefer gehen
- Sich selbst durch persönliche Autorität abgrenzen”
Zum Schluss rufe ich noch mal den Titel des Blog-Beitrages = den Buchtitel von Juul und Jensen in Erinnerung: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Was hat das Ganze mit Verantwortung zu tun? Eine einfache Antwort: Persönliche Verantwortung kann ich nur übernehmen, wenn ich in der Lage bin, meine Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, anzuerkennen und die innere Freiheit habe, ihnen zu folgen.
Erst dann kann ich entscheiden: Folge ich meiner innerer (eigene Grenzen, Bedürfnisse, Gefühle, Ziele …) oder äußerer (Erwartungen, Ansprüche, Grenzen … anderer) Verantwortlichkeit. Vielleicht gibts ja auch ein Sowohl-als-auch?
Und das ist die Übernahme persönlicher Verantwortung. Und die lerne ich nicht, wenn ich nur lerne, mich an Regeln zu halten.
Im Mai nehme ich übrigens an einer dreitägigen gleichnamigen Weiterbildung von Helle Jensen in München teil und freue mich schon sehr darauf.
Jesper Juul & Helle Jensen: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur. 2009: Beltz Verlag, Weinheim und Basel.
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