Kein Verhalten unserer Kinder bringt mich (Susanne) so an meine Grenzen, wie ihr aggressives – mit dem sie uns, wie alle Kinder ihre Eltern, konfrontieren. Die Herausforderungen für mich sind vielschichtig:

  • Die Wut, den Ärger, die innere Anspannung, den Frust des Kindes das haut, schubst, wegnimmt … zuallererst wahrnehmen, da sein lassen und anerkennen (und nicht sofort „Das darfst du nicht.“ , „Wenn du das tust, dann …“ etc. sagen).
  • Nicht meinerseits aggressiv sondern einfühlsam und v.a. liebevoll reagieren (in der tiefen Überzeugung, dass jedes Verhalten einen Sinn macht, wenn man den inneren oder äußeren Kontext eines Menschen kennt – nach der Indianerweisheit „Urteile nicht über einen Menschen, wenn du nicht einen Tag in seinen Schuhen gelaufen bist“).
  • Gleichzeitig meine Wut, meinen Stress, meinen „Film“ .. wahrnehmen, anerkennen und regulieren.
  • Gerne meinen Ärger, mein Genervt-sein, Gestresst-sein den Kindern gegenüber zum Ausdruck bringen, aber ohne ihre persönliche Integrität zu verletzen.
  • Meine persönlichen Grenzen deutlich machen, ohne die Grenzen des Kindes zu verletzen.
  • Mich nicht abwenden (mein Muster wenn ich mich ärgere ist, den Kontakt abzubrechen), sondern im Kontakt mit dem Kind bleiben.
  • Auf der Seite unserer Kindern stehen, wenn sie etwas tun, was andere missbilligen; mich nicht für das Verhalten unserer Kinder schämen (bzw. meine Scham wahrnehmen und anerkennen, ohne ihr die Macht zu geben, handlungsleitend zu werden).  Wenn sich andere Erwachsene über das aggressive Verhalten eines unserer Kinder aufregen ist es mir schon einige Male passiert, dass ich mich auf die Seite des anderen Erwachsenen gestellt habe, weil es mir wichtig war, von dem gemocht zu werden – selbst wenn er mir wildfremd war. Das finde ich jedes Mal ganz furchtbar.
  • Mir eingestehen, dass ich zu denen gehöre, die – vor allem in der Öffentlichkeit – gerne liebe, gut angepasste und folgsame Kinder möchten. Jesper Juul sagt, von denen, die dem alten Erziehungsparadigma anhängen, gibt es noch viele. Sie wollen dieses Ziel nur in einer sanfteren Art erreichen. – Ich gehöre dazu. Noch … .
  • Mich um die Weiterentwicklung meines Umgangs mit meinen aggressiven Gefühlen unabhängig von unseren Kindern kümmern.
  • Mich von meiner inneren Überzeugung verabschieden, dass nur eine harmonische, friedliche und entspannte Familienatmosphäre eine gelungene ist.

Die Liste ist lang und ich übe mich in der Kunst des Scheiterns, die allein dem Gelingen vorangeht … .

 

 

 

 

 

 

 

So mancher Leser wird jetzt denken, wir hätten kleine Monster. Haben wir nicht. Wir haben liebenswerte, freundliche und soziale Kinder, die sich manchmal aggressiv verhalten.  Das Monster ist in mir – und – das tröstet mich etwas – in unserer Gesellschaft.  Aggression erschreckt uns, macht uns Angst, wir wollen sie nicht haben. Für den dänischen Familientherapeuten  und Erziehungsexperten (besser: Beziehungsexperten)  Jesper Juul ist „Aggression … unerwünscht, in unserer Gesellschaft und vor allem bei unseren Kindern“. Auf der Suche nach Hilfe und Inspiration bin ich auf sein aktuelles  Buch „Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist“ gestoßen. Der Spiegel titulierte Juul als „Lichtgestalt der modernen Pädagogik“. Das ist er für mich tatsächlich auch, weil er es oft schafft, bestehende Grenzen des Denkens zu überschreiten und Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen. Andere Ratgeber / Fachartikel die ich gelesen habe, kommen z.B. beim Thema “Aggressives Verhalten von Kindern” immer letztlich darauf zurück, dass Kinder klare Regeln, Grenzen und Konsequenzen brauchen. Das hat mich noch nie überzeugt – bis auf die Tatsache, die auch Jesper Juul anerkennt, dass natürlich jede soziale Gemeinschaft eine Handvoll Regeln braucht, damit es allen gut gehen kann.

Im folgenden also ein kleiner Artikel über aggressives Verhalten von Kindern und unseren Umgang damit. Ich gebe gleichzeitig damit einen Ausblick auf das genannte Buch von Jesper Juul.

Eine Szene auf dem Spielplatz: Ein ca. 4 jähriger Junge sitzt im Sandkasten und schaufelt engagiert mit seinem Bagger ein Loch. Unweit von ihm sitzt eine ca. Einjährige. Der Bagger hat ihr Interesse geweckt und sie greift nach der Baggerschaufel. Der Junge schiebt ihre Hand weg. Die Kleine greift erneut nach der Baggerschaufel – deutlich genervter schiebt der Junge ihre Hand erneut weg. Mit der Beharrlichkeit, die kleine Kinder auszeichnet, wenn sie etwas erkunden möchten, greift das Mädchen nochmal nach der Baggerschaufel. Der Junge nimmt die Plastikschaufel, die neben ihm liegt und haut sie der Kleinen auf den Kopf.

Die eben noch friedliche und entspannte Sandkastenatmosphäre hat ein jähes Ende. Und das weniger, weil die Kleine weint. Die Stimmung der Erwachsenen, die um den Sandkasten sitzen, hat sich jäh geändert – alle richten ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen und das Mädchen.  Die Atmosphäre ist voller Spannung. Alle Erwachsenen haben – wenn auch unterschiedliche – doch starke Gefühle in Bezug auf den „Vorfall“. Die Mutter des Mädchens ist erschrocken und empört. Die Mutter des Jungens ist aufgewühlt. Sie ärgert sich über das Verhalten ihres Kindes. Sie schämt sich und fühlt sich auch etwas schuldig, weil sie nicht gut genug aufgepasst hat. Die übrigen Erwachsenen sind entweder mit der Mutter des „Opfers“ oder mit der Mutter des „Täters“ identifiziert und erleben entsprechende Gefühle.

Der jähe Atmosphärenwechsel ist Kennzeichen dafür: Hier wurde ein Tabu gebrochen! Es gab auf diesem Spielplatz eine stillschweigend praktizierte Regel, eine kulturell überformte Übereinkunft, dass aggressives Verhalten strikt verboten ist. Auf einem Spielplatz darf vieles passieren – nur das nicht. Die Kinder – auch der „Übeltäter“ – spielen unbekümmert weiter.

„Aggression ist unerwünscht, in unserer Gesellschaft und besonders bei unseren Kindern. Aggressives Verhalten gilt als Tabu und wird diskriminiert“, so Jesper Juul. Kinder, die hauen, schubsen, beißen … werden kritisiert, zurechtgewiesen, herabgesetzt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Im Elternhaus: „In unserer Familie tun wir uns nicht weh“ (implizite Botschaft: wenn Du mich oder Deine Schwester haust, gehörst Du nicht mehr zu unserer Familie).

In der Krippe: Ein zweieinhalbjähriges Mädchen hat eine Gleichaltrige in einer Woche zweimal gebissen. Die Mutter des „Opfers“ hat sich beschwert. Das Mädchen, das sich wiederholt aggressiv verhalten hat, soll nun einer Psychologin vorgestellt werden. (Beispiel von Jesper Juul aus seiner Beratungspraxis).

In der Kita: „Wir hauen nicht!“. Wer haut oder schubst, wird zurechtgewiesen und muss ein paar Minuten „sitzen“.

Auf dem Spielplatz: „Wenn Du anderen Kindern weh tust, dann gehen wir sofort nach Hause“.

„Ja, aber Gewalt kann man doch nicht einfach dulden.“ „ Kinder müssen doch lernen, dass sie anderen nicht weh tun dürfen.“ „Die anderen Kinder müssen doch geschützt werden“ – so oder ähnlich, werden jetzt viele denken oder sagen.

Wo ist das Problem? „Gegen die Auffassung, dass wir in unseren Familien, Institutionen und unserer Gesellschaft so wenig destruktive Aggression wie möglich antreffen wollen, habe ich nichts einzuwenden“, so Jesper Juul. „Allerdings müssen wir anerkennen, dass aggressive Gefühle … im Reifungsprozess eines Kindes … immer in einer destruktiven oder selbstdestruktiven Form ausgedrückt werden.“ Kinder können ihre Frustration nicht auf einem intellektuellen Niveau ausdrücken. D.h. sie können ihre innere Spannung z.B. nicht in sprachlicher Form ausdrücken. V.a. kleineren Kindern fehlt die Möglichkeit, sich über Gedanken und Gefühle zu äußern. Aber auch ältere Kinder können auf diese Fähigkeit nicht mehr zurückgreifen, wenn sie stark erregt sind. Starke Erregung setzt zwar physische Kräfte frei, beeinträchtigt aber komplexe Denkprozesse.

Das bedeutet: Wenn wir Kindern den destruktiven Ausdruck ihrer Frustration verbieten, verbieten wir ihnen, ihre Frustration, ihren Ärger, ihre Wut auszudrücken! Und dieser Punkt ist wirklich wichtig. Viele Kinder lernen früh, ihre Frustration, ihren Ärger und ihre Wut zu unterdrücken. Eltern und Erzieherinnen sind froh mit lieben, umgänglichen und gut angepassten Kindern.

Der Preis, den die Kinder dafür zahlen ist hoch:

Ein gesundes Selbstwertgefühl basiert auf einem besonnenen, nuancenreichen und bejahenden Selbstbild – ein Selbstbild, in dem das gesamte Spektrum inneren Erlebens sein darf. Ich bin all meine Gefühle, all meine Gedanken, all meine  Körperempfindungen und all meine Handlungsimpulse. Für Jesper Juul ist dies der Schlüssel zu geistiger und seelischer Gesundheit. Wenn wir aggressivem Verhalten von Kindern moralisierend begegnen bzw. sie negativ oder kritisch zurechtweisen, dann lernt ein Kind: Meine Wut, mein Ärger, meine Frustration sind nicht o.k. . Es hat keine Chance, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln.

„Kinder kommen unschuldig zu ihrem Verhalten“, so Jesper Juul. „Überhäuft man ihr Dasein mit moralischer Schuld und Schuldgefühlen, ist das für ihre geistige Gesundheit und die Entwicklung einer echten sozialen Kompetenz schädlich. Und wenn Erwachsene nichts dazu lernen und beharrlich bleiben, wird ihr Verhalten später von Schuld und Schuldgefühlen geprägt sein.“ Wer kennt sie nicht, die unzähligen Erwachsenen, v.a. Frauen, die sich permanent schuldig und schlecht fühlen, wenn sie versuchen, ihre persönlichen Bedürfnisse und Grenzen zu vertreten oder ihre Ziele zu verfolgen (Aggression ist viel mehr als wütend sein – ohne Aggression sind wir nicht imstande Träume zu verwirklichen, uns Ziele zu setzen und sie zu verfolgen, unsere Grenzen zu bestimmen, unsere Kinder zu beschützen … .)

Wer viel Angst, Schuld und Scham erlebt, neigt viel mehr zu destruktivem und selbstdestruktivem Verhalten als Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl. Mit unseren Bemühungen erreichen wir also leicht das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigt haben.

Was ist Not-wendig? Jesper Juul plädiert für ein radikales Umdenken: Es ist normal, wenn Kinder hauen, schubsen, kratzen, beißen … was nicht bedeutet, dass wir das immer zulassen sollen, wenn wir dabei sind. Auf keinen Fall dürfen wir ihr Verhalten jedoch als „schlecht“ bewerten.

Wie lange ist es denn normal, d.h. ab wann sollten Kinder in der Lage sein, die impulsive Aggression in kreatives und konstruktives Verhalten zu verwandeln? Jesper Juul hierzu: „Ein durchschnittliches Kind, das in einem sicheren und fürsorglichen Umfeld aufwächst, braucht eine ganze Kindheit experimentellen Lernens, um alle seine aggressiven Gefühle zu integrieren, die destruktiven unter Kontrolle zu bekommen und sie von den konstruktiven zu unterscheiden. Wer diese natürliche Entwicklung beschleunigen will, gefährdet die geistige Gesundheit des Kindes und landet womöglich beim Gegenteil von dem, was er ursprünglich durch seine Intervention beabsichtigt hat.”

Es gibt auch Kinder, die sich vor dem Hintergrund erlebter Vernachlässigung und Gewalt aggressiv verhalten. Sie schlagen, schubsen, beißen … oft ohne Ankündigung oder von außen sichtbarem Anlass. Sie brauchen erst recht liebevolle und empathische Begleitung ohne Verurteilung ihres Verhaltens. Jesper Juul nennt in diesem Zusammenhang fünf konstruktive Qualitäten, die im Leben eines aggressiven Kindes Früchte tragen werden: Dialog, Interesse, Neugierde, Anerkennung und persönliches Feedback. Eine Konzentration auf das Symptom bringt nichts. Juul rät: Sprich möglichst wenig über das aggressive Verhalten des Kindes!“

O.k., wir haben radikal umgedacht – wie sieht nun der radikal andere Umgang mit kindlicher Aggression in der Praxis aus? Da ich selbst am meisten von Beispielen lerne, möchte ich einfach ein paar skizzieren. Vielleicht inspiriert Sie das – in welchem Kontext auch immer Sie mit Kindern leben oder arbeiten.

Situation: Ein zwei Jahre altes Kind klettert auf das Trampolin, auf dem sich bereits der große Bruder befindet. Die Regel ist, dass immer nur ein Kind auf dem Trampolin sein darf. Die Mutter begrenzt das Kind und hält es zurück. Das Kind ist frustriert und schlägt nach der Mutter. Einfühlung in das Kind: „Jetzt auf dem Trampolin toben mit meinem großer Bruder. Die Vorfreude breitet sich in  mir aus, fühlt sich jetzt schon toll an … . Da hält mich jemand zurück. Ich kann nicht weiter. Was für eine Wut, die da kommt.“ Mögliche Reaktion: „Stop! Ich will nicht, dass Du mich schlägst. Du bist wütend, weil ich dich nicht aufs Trampolin lasse.“ Der Antwort / Reaktion des Kindes Raum lassen, dann dem Kind eine alternative Form des Aggressionsausdruckes anbieten, z.B. wütendes Gesicht machen mit entsprechendem stimmlichen Ausdruck und/oder auf ein Kissen schlagen, mit dem Fuß aufstampfen … . Was lernt das Kind? 1. Das ist meine Mutter und das ist eine ihrer wichtigen Grenzen. 2. Es ist o.k. wütend zu sein. 3. Es gibt Formen, meine Wut auszudrücken, die für meine Mutter o.k. sind.

Situation: Ein dreijähriger Junge schlägt seine Schwester, die noch ein Baby ist, mit seinem neuen großen Spielzeuglaster, nur weil sie versucht hat, ihn dem Jungen wegzunehmen oder er den Eindruck hatte, dass sie sich in sein Spiel einmischen möchte. Einfühlung in den Jungen: „Meine Schwester will mir meinen neuen Laster wegnehmen. Der ist mir ganz wichtig. Ich fühle mich bedroht.“ Oder „ Ich will ungestört spielen. Es nervt mich, dass sie nach meinen Sachen greift. Ich fühle mich im Verfolgen meiner Ideen und Ziele bedroht“. Wenn jemand in dein Haus eingebrochen ist und dir dein Fahrrad geklaut hat, weißt du genau, wie sich der Junge fühlt und warum er aggressiv reagiert. Wenn du konzentriert am Laptop arbeitest und jemand dauernd irgendwelche Tasten drückt, auch. Mögliche Reaktion: „Stop! Ich möchte nicht, dass du deine Schwester schlägst , aber ich verstehe, weshalb du so aufgebracht bist. Ich werde dir beibringen, wie du es anstellen kannst, dass dich deine Schwester respektiert. Aber sie ist noch sehr klein, und es könnte noch eine Weile dauern, bis sie uns versteht.“ Was lernt der Junge?: 1. Man kann Grenzen setzen, ohne aggressiv und gewalttätig zu werden. 2. Meine persönliche Integrität wird anerkannt. 3. Meine Mutter teilt eine Weisheit mit mir, die mich spüren lässt, dass ich wertvoll und schon ganz schön groß bin. 4. In der Zukunft werde ich etwas neu können und meine Schwester wird etwas neu und anders können.

Situation: Im Kindergarten. Ein fünfjähriges Mädchen, das in der Vergangenheit Vernachlässigung und Gewalt erlebt hat, fällt allgemein durch aggressives Verhalten auf. Jetzt gerade im Garten: Ein Kind ist gestolpert und hingefallen. Das Mädchen beobachtet dies und fährt mit seinem Laufrad gezielt in das auf dem Boden liegende Kind. Einfühlung in das Mädchen: „Mir geht es nicht gut und ich finde keinen anderen Weg, das zu zeigen, als etwas zu machen von dem ich weiß, dass ich es nicht darf“. Oder: „Ich zeige euch mit meinem Verhalten, was ich oft erlebt habe. Früher, als ich noch klein war, haben Menschen oft und für mich aus heiterem Himmel meine persönlichen Grenzen verletzt.“ Oder: Ich verhalte mich so, dass die anderen mich ablehnen, dass die anderen Kinder z.B. nicht mehr mit mir spielen wollen. Damit stelle ich einen Zustand her, der mir von früher sehr vertraut ist: Einsamkeit. So war es früher für mich: Ich wollte dazugehören, in Verbindung mit anderen Menschen sein, aber es ging nicht. Mögliche Reaktion: Nach Jesper Juul muss die Erzieherin hier zwei Dinge wissen, um für das Kind hilfreich reagieren zu können: 1. Das Verhalten des Mädchens ist nur ein Symptom, und über Symptome zu sprechen ist im Allgemeinen pure Verschwendung von Energie und Zeit. Das Kind weiß bereits, dass du sein Verhalten für problematisch hältst, und wird sich das wahrscheinlich auch merken. Jedes menschliche Wesen ist aber sehr viel mehr als sein „Problem“ oder seine „Unfähigkeit“, und darauf solltest du deine Aufmerksamkeit richten. 2. Das Ziel eurer Dialoge ist nicht, sein Verhalten zu ändern, sondern eine solide Beziehung aufzubauen. Ist deine Anwesenheit durch dein Programm vergiftet, wird das jedes sensible Kind spüren und sich als Objekt deiner Manipulation betrachten. Sei geduldig und versichert: Je besser deine Beziehung zu dem Mädchen ist, desto schneller wird sich sein Verhalten ändern. Als hilfreiche Reaktion empfiehlt Juul: Wenn das Mädchen sich in Bezug auf andere Kinder aggressiv verhält, geh zu ihm hin, leg ihm die Hand auf die Schulter oder auf den Kopf und frag, ob es Hilfe braucht. Seine Antwort ist nicht sonderlich wichtig. Was lernt das Mädchen? 1. Ich bin wertvoll für die Erzieherin. 2. Die Erzieherin versteht mein Verhalten als Hilfeschrei.

Diese Beispiele sollen eine Idee davon vermitteln, wie wir für die Kinder hilfreicher und fairer im Umgang mit ihrem aggressiven Verhalten sein können. Ich denke, wir befinden uns erst am Anfang eines neuen Weges – für weiterführende Rückmeldungen, Anregungen, Literaturtipps etc. sind wir dankbar!

Abschließend noch ein Blick auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext: 

V.a. Mädchen wurden dazu erzogen, ihre aggressiven Impulse zugunsten von Harmonie zu unterdrücken. Gleichzeitig galt es lange  als unschicklich, unreif, lächerlich …, überhaupt Gefühle zu zeigen. Jesper Juul beschreibt, dass Frauen über Generationen in ihre Schranken verwiesen wurden, “wenn sie mehr als zwei Emotionen gleichzeitig ausdrückten”. “Durch die Psychiatrie, die sie … als Hysterikerinnen oder irrationale Wesen abstempelte; durch die Ehemänner, die sie in die Küche schickten, um sich dort  abzureagieren, wenn sie denn nicht auf eine zivilisierte Art sprechen können.” Jesper Juul weiter: “Mütter, Erzieherinnen, Lehrerinnen – Enkelinnen und Großenkelinnen dieser unglücklichen Frauen – tun heute dasselbe mit den Kindern, die man ihnen anvertraut hat: Sie lehnen deren aggressiven Ausbrüche ab und nehmen sie nicht ernst; sie erwarten, dass vierjährige Kinder in der Lage sein sollen, ihre Frustration auf einem intellektuellen Niveau auszudrücken. ” Juul nennt hierzu eine brandaktuelle dänische Studie (2012), in der zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialwissenschaften Kindergartenkinder ihre eigene Meinung sagen durften. Diese Studie zeigt, dass 24% der Jungen sich im Kindergarten nicht besonders wohl fühlen. Dieser Prozentsatz wurde von den Erzieherinnen (meist Frauen) bestätigt: 22% der Jungen seien “Problemkinder”, weil sie ihren Ärger und ihren Frust “ausleben” würden. Eine Anmerkung an dieser Stelle: Auch Männer haben in der Geschichte nicht die Bedingungen vorgefunden, die sie gebraucht hätten, um einen guten Umgang mit ihren aggressiven Gefühlen entwickeln zu können.

Gesellschaftlich geht es Jesper Juul darum, nicht nur die wahren Wurzeln von Wut, Zorn, Gewalt und Hass zu erklären, sondern sich zu bemühen “Wege zu finden, um in Familien, Kindergärten und auf den Straßen unserer Städte mit starken Gefühlen umgehen zu lernen”. In diesem Zusammenhang nennt er die “Tendenz, jede bedeutsame Emotion in unseren Familienhäusern und Tagesstätten unwillkommen zu heißen, ausgenommen das Glücklichsein”.  In der Kita unseres Sohnes hatte eine Erzieherin persönlichen Kummer. Es hat mich sehr beeindruckt und war für mich ein Zeichen ihrer persönlichen Stärke, dass sie damit im Team und auch zum Teil im Kontakt mit uns Eltern offen umging, d.h. sie hat sich z.B. erlaubt zu weinen und ihren Kummer zu zeigen. Dabei hat sie versichert, sie weine natürlich nicht vor den Kindern. Wir alle haben diese Tendenz. Kinder brauchen aber Erwachsene, die sich mit all ihren Gefühlen zeigen. Erstens ist nur so eine gleichwertige Beziehung möglich und zweitens:  wie sollen die Kinder sonst lernen, dass alle Gefühle zu einem wertvollen reifen Menschen gehören und o.k. sind.

Wir Erwachsene zeigen unseren Kummer nicht. Auch Kinder sollen nicht mehr leiden. Immer mehr Eltern sehen ihre Verantwortung darin, Kinder vor jeder Frustration, jedem Schmerz, jeder Traurigkeit und insbesondere vor unangenehmen Erfahrungen zu bewahren. Jesper Juul nennt diese Eltern “Helikopter-Mütter und Helikopter-Väter”. Helikopter-Eltern kreisen über ihren Kindern und versuchen jede mögliche unangenehme Erfahrung für ihre Kinder (z.B. von einem anderen Kind geschubst zu werden) schon im Vorfeld abzuwenden. Damit tun sie ihren Kindern einen zweifelhaften Dienst. In meiner Arbeit mit Eltern verwende ich in diesem Zusammenhang immer das Bild von einem psychischen Immunsystem. So wie das biologische Immunsystem Viren, Bakterien und Keime benötigt, um sich gut auszubilden und stark werden zu können, benötigt das psychische Immunsystem die normalen Belastungen des Lebens. Eine normale Belastung im Leben eines Kindes ist z.B. die Erfahrung, von einem anderen Kind gehauen oder geschubst zu werden. Wenn Mama, Papa oder eine andere Bezugsperson diese Erfahrung empathisch begleiten, nimmt das Kind keinen Schaden. Im Gegenteil: Es lernt: Etwas hat weh getan, mir Angst gemacht … und diese Erfahrung ist (zunächst noch mit Hilfe von Mama, Papa, Anna …) für mich bewältigbar.  Eine eindrückliche Erfahrung hatten wir selbst diesbezüglich vor wenigen Wochen mit unserer zweijährigen Tochter. Wir waren auf der Kirmes. Mariella liebt das Karussellfahren und sie drehte glücklich ihre Runden in einem Feuerwehrauto. Danach wollte sie wie ihr großer  Bruder mit Mama Karin Boxauto (Knuppauto) fahren. Dies erwies sich als Fehlentscheidung. Die Fahrt hat ihr große Angst gemacht. Unsere Tochter hat geweint und recht lange gebraucht, um sich wieder zu beruhigen. Spannend war, was in den folgenden Tagen geschah: sie erzählte immer und immer wieder diese beiden Erlebnisse – das Glück im Feuerwehrauto und die Angst im Boxauto. Am Tag des Geschehens 30x, am folgenden Tag 20x, am dritten Tag 10x … verbalisierend, mit Zuhilfenahme von Mimik und Gestik verdaute sie das Erlebte. Und von Tag zu Tag kann sie es entspannter erzählen. Freud und Leid … im Leben so oft so nah beieinander … das ist das normale und reale Leben … und davor sollten wir unsere Kinder nicht schützen.

Spannend für mich sind auch die Verwirrungen, die für Eltern und Kinder entstehen, wenn neue Erziehungsstile und -ziele und alte verinnerlichte Erziehungsparadigmen zusammentreffen. Wir wollen, dass sich unsere Kinder frei entfalten können, wozu gehört, dass sie auch all ihre Gefühle zeigen und all ihre Bedürfnisse und Wünsche äußern können (Im Supermarkt: Ich möchte Schokolade. Mama kauft mir keine. Das gefällt mir nicht. Ich quengle und motze.) Gleichzeitig wollen wir wie früher nette, höfliche und gehorsame Kinder  (Oh je, was denkt die Verkäuferin? – “Hör sofort auf, so ein Theater zu machen!”). Wir distanzieren uns (zum Glück) von Kritik, Strafe, Hohn und Demütigung, haben aber in uns noch nicht wirklich einen neuen Weg entwickelt, gut mit unseren Kinder zu kommunizieren. Der Wolf zeigt sich dann oft im Schafspelz: wir kommunizieren aggressive Inhalte in weicher und vermeintlich liebevoller Sprache (“Wenn du so quengelst, mein Schatz, dann kann Mama dich nicht mehr zum Einkaufen mitnehmen. Das ist Mama zu anstrengend”). Wir wollen nicht autoritär sein und keine verletzende oder aggressive Sprache verwenden. Wie sagen wir dann, was wir wollen und was wir nicht wollen? Wie übernehmen wir auf eine gute Art die Führung, die Kinder brauchen. Gefordert sind eine persönliche Sprache und ein authentisches Feedback. Und gefordert ist auch ein hohes Selbstwertgefühl. Unsere Kinder können nur sie selber sein, wenn sie nicht unsere Erwartungen erfüllen müssen, damit wir uns wertvoll und gut fühlen. Persönliche Sprache, authentisches Feedback, Selbstwertgefühl – in vielen Erwachsenen tut sich hier ein weites Entwicklungsland auf.

Machen wir uns auf den Weg!

Literaturhinweis:

Jesper Juul (2013): Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist.Frankfurt: Fischer Verlag.

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