Fördern – bis in der Seele alles leer ist. Diesen Satz wählte der Erziehungsexperte Wolfgang Bergmann als Auftakt zu seinem Buch gegen der Förderwahn in der Erziehung. Eine Tendenz, die allgegenwärtig ist und doch nicht neu. In meiner Ausbildung zur Erzieherin vor 25 Jahren nahm das Durchführen geleiteter pädagogischer Aktivitäten einen großen Raum ein. Ich weiß noch, wie unermüdlich wir das Formulieren von Grob- und Feinzielen geübt haben. Diese beinhalteten unsere Vorstellung, was ein Kind in einem pädagogischen Angebot z.B. bei der Einführung eines neuen Liedes erfahren und lernen sollte. Alles ganz spielerisch und – vermeintlich – Kind gerecht natürlich. Ich habe das damals nicht in Frage gestellt. (Es hat mir nur keinen Spaß gemacht und ich habe dann lieber in therapeutischen Teams in der Psychiatrie gearbeitet – da war mehr Beziehung und ein lebendigeres Miteinander.) Von Selbstbildungsprozessen, von der Fähigkeit eines Kindes, seinen eigenen Lern- und Entwicklungsprozess gemäß seinem “inneren Fahrplan” selbst zu steuern, war in meiner Ausbildung nicht die Rede. Ich glaube, man wusste damals auch noch wenig darüber, wie Kinder lernen. Heute sind wir wissend, zumindest wissender. Der pädagogische Alltag lässt sich davon wenig stören. Immer noch versuchen Pädagog/innen das Kind zu Dingen zu verleiten, die seinem inneren Ziel nicht entsprechen. Da sitzt eine vielleicht Vierjährige in der Bauecke – ganz versunken in den Bau einer Höhle für ihr kleines Schaf. Das braucht doch Schutz – vielleicht beginnt es gleich zu regnen. Mitten in das innere Erleben des Kindes hinein dringt das Händeklatschen oder das Rufen der Erzieherin: Aufräumzeit – es ist soweit – gleich wird der Stuhlkreis gemacht. Die heutige Aktivität ist dran. Mit deren Vorbereitung waren die Erzieherinnen auch so beschäftigt, dass sie das kleine Mädchen und ihr Tun, gar nicht wahrgenommen haben. Herausgerissen aus ihrem vertieften Spiel sitzt das Mädchen dann im Stuhlkreis. Brav singt sie das neue Lied mit. Irgendwann lacht sie sogar mit den anderen über eine lustige Stelle im Liedtext. Na also – sie hat doch Spaß, die Aktivität gefällt ihr. Ja, aber was lernt das Kind? Welchen Preis hat das neue Frühlingslied? Auf jeden Fall führt es sie weg von sich selber. Das, von dem sie beseelt war, ist weg.
Fördern, bis in der Seele alles leer ist. Kein neues Phänomen. Neu ist heute vielleicht, dass der Förderwahn auch die Elternhäuser erreicht hat und in- oder außerhalb einer Krippe die Unter-Dreijährigen. Mir ist erst seit wir Kinder haben bewusst, wie groß das Angebot an Fördermöglichkeiten ist. Da gibt es Babyschwimmen, Babymassage, PEKiP-Gruppen, Mal-, Musik- Sport- und Sprachkurse für Kleinkinder, Waldfühltage, Airtramp-Angebote, Lernspiele über Lernspiele in Spielzeugläden und vieles vieles mehr. Nicht das jedes einzelne dieser Angebote schlecht wäre (bis auf den Sprachkurs vielleicht …). Im Gegenteil: wenn ein einzelnes Angebot auf ein besonderes Interesse des Kindes trifft und auch der begleitenden Bezugsperson Freude macht, kann das wunderbar sein. Mir hat einmal eine Großmutter erzählt, dass sie einmal die Woche mit ihrem dreijährigen Enkel zum Kinderturnen geht. Toll – und wertvoll – vermutlich weit mehr für die Beziehung Oma-Enkel als für dessen motorische Entwicklung – und so soll es auch sein. Organisierte Frühförderkurse also, wenn wohl dosiert und wenn die Beziehung und der gemeinsame Spaß im Vordergrund steht. Ansonsten rät der Gehirnforscher Dr. Gerald Hüther Eltern: “Bitte verzichten Sie auf fertige Programme und Bildungskataloge. Ihr Kind mag noch keinen Lehrplan verordnet bekommen”. Er rät stattdessen, ein anregendes Umfeld zu schaffen, in dem das Kind seinen Interessen und seiner Wissbegierde in Freiheit nachgehen kann.
Fördern – bis in der Seele alles leer ist. Manchmal finde ich unseren viereinhalbjährigen Sohn tief versunken in sich selbst. Er macht dann ästhetische langsame Hand- und Armbewegungen, die er mit den Augen verfolgt. Oder er murmelt Worte, zitiert Sätze aus seinen Büchern, spricht Zahlenreihen. Oft erschließt sich mir von außen nicht der Sinn, aber es wird mehr wie deutlich, dass es einen inneren Sinnzusammenhang gibt, dass das, was ich sehen und/oder hören kann, intenisve Seelenbewegungen sind. Diese zeigen sich natürlich auch, wenn er baut, konstruiert, die Legofiguren reden lässt, in eine andere Rolle schlüpft, mit den Katzen kuschelt, die Puppenbabies versorgt, auf einem Spielplatz einen Freund für einen Nachmittag findet und selig ist … . Und natürlich, wenn er erzählt und erzählt und erzählt … Geschichten, Gedanken, Fragen, die seine innere Wirklichkeit gestalten und widerspiegeln. All das sind schöpferische, kreative Prozesse, in denen er seine Welt erschafft und gleichzeitig die Welt begreift. Im freien Spiel lernt das Kind alles, was es lernen will und muss, um sich zu entfalten und zu entwickeln. Vorausgesetzt die Umgebung ist reich genug an Anregung. Vorausgesetzt das Kind hat Menschen, mit denen es in Liebe verbunden ist und die seine Erfahrungen wahrnehmen, hilfreich begleiten und nähren. Und vorausgesetzt, das Kind hat erstens ausreichend zweckfreie Zeit, die es zweitens nicht vor dem Fernseher verbringt.
In der Vorbereitung dieses Blog-Beitrags musste ich mich entscheiden, welchen Schwerpunkt ich zum Thema “Wie lernen Kinder? Was brauchen sie, um sich gut zu entwickeln?” wählen sollte, um mich nicht zu verzetteln. Das Thema ist ein “weites Feld” und ich kann in einem so kurzen Beitrag nicht alle Aspekte beleuchten. Dabei habe ich gemerkt, dass mich der Satz von Wolfgang Bergmann “Fördern – bis in der Seele alles leer ist” am meisten berührt, interessiert und inspiriert. Vielleicht, weil mich die einseitig kognitiv-intellektuelle Ausrichtung unserer Bildungsinstitutionen nervt, die auch noch immer früher ansetzt. Bereits Vorschulkinder haben oft ein beeindruckendes Weltwissen. Sie wissen, wie die Feuerwehr organisiert ist, welche Tiere in Afrika leben, wie die ägyptischen Pyramiden aussehen, wie ein Motor funktioniert, wie im ländlichen China die Häuser gebaut werden und wie in Trier die Römer und in Südamerika die Indianer früher gelebt haben. Sie lernen auch so praktische Dinge wie das Lesen der Uhrzeit, das Sich Zurechtfinden im Straßenverkehr, das Zählen und die Buchstaben. Zumindest ihren eigenen Namen können Vorschulkinder meist schon schreiben. Was ist daran so schlimm? Nichts! Im Gegenteil: Toll, dass die Neugierde und der Wissensdurst von Kindern heute auf viel mehr Anregung stößt, als dies noch zu meiner Kindheit der Fall war. Schlimm ist, was sie NICHT lernen. Sie lernen oft, viel zu oft nicht, sich selber zu spüren. Wie fühlt sich mein Herzschlag an? Wie, wenn ich aufgeregt bin oder getobt habe und wie nach einer Kuschelrunde auf dem Schoss der Lieblingserzieherin? Wie fühlt es sich an, wenn ich wütend/traurig/fröhlich … bin und nach was ist mir dann zumute? Wie kann ich mich entspannen und woran merke ich, dass ich entspannt bin? Vor einer Gruppenaktivität – möchte ich mitmachen oder möchte ich lieber etwas anderes tun? Hilft mir jemand, das herauszufinden oder ist es für alle einfach viel bequemer, wenn ich einfach mitmache und gar nicht in mich hineinhöre? Wie kann ich in einer Gemeinschaft meine Integrität wahren? Wie meine Gefühle und Bedürfnisse ausdrücken und vertreten? Oder ist die Voraussetzung für Zugehörigkeit, dass ich mich anpasse? Wie geht es meinem Gegenüber – Mama, Papa, der kleinen Schwester, der Erzieherin, den anderen Kindern? Und woran kann ich erkennen, wie es ihnen geht? Was brauchen die jetzt wohl? Was würde ihnen gut tun? …. Jesper Juul et al sprechen in ihrem Buch “Miteinander” von “einer eklatanten und fundamentalen Schieflage unseres Bildungssystems”. Zugunsten einer einseitigen Gewichtung auf die mentalen und intellektuellen Fertigkeiten lernen die Kinder kaum etwas, was ihnen hilft, sich selbst und andere besser wahrzunehmen und zu verstehen. Dabei ist das die Grundlage für ein gelingendes Leben. Dabei geht es auch nicht um eine einseitige Gewichtung hierauf. Es geht um eine ausgewogene Balance zwischen Selbst-Wissen, Um-andere-Wissen und Welt-Wissen.
Und bei Welt-Wissen geht es erst einmal um die Aneignung der unmittelbaren über die Sinne erfahrbaren (Um)Welt: Das freie Spiel mit Sand, Wasser, Erde, Steinen und Pflanzenteilen. Das Erfahren von Wind, Sonne, Regen, Schnee, Wärme und Kälte. Die Käfer im Garten entdecken, die Vögel am Himmel beobachten, den Hund der Nachbarin streicheln. Ein Feuer beobachten, erleben, wie es wärmer wird, wenn man sich ihm nähert, bis zu dem Punkt, an dem es unangenehm heiß wird. Bei solchen Erfahrungen sind durch ihre Komplexität viele Sinne und damit das ganze Gehirn beteiligt. Ganz anders als z.B. bei einem Kind, das auf einem Stuhl im Sprachkurs sitzt. Wie auch immer sich die Pädagog/innen bemühen, wie spielerisch auch immer sie ihr Angebot gestalten, vermutlich sind nicht mehr als ein bis zwei Gehirnbereiche aktiv. Der Rest ist dunkel und leer. “Fördern, bis in der Seele alles leer ist”.
Die Beteiligung des ganzen Gehirns ist nicht nur bei Naturerfahrungen gegeben. Immer wenn ein Kind aus eigenem Antrieb und mit intensiven Gefühlen bei der Sache ist, ist auch sein Gehirn hoch aktiv. Gerald Hüther sagt wir lernen, “wenn uns etwas unter die Haut geht” – erschüttert darüber sein dass das Bauwerk eingestürzt ist, freudig das erste Puzzle ganz alleine zusammensetzen, traurig ein totes Vögelchen im Garten begraben, genussvoll im Bett mit Mama kuscheln, neugierig und voller Spannung beobachten, wie ein Kran aufgebaut wird. Die Lernforschung spricht von der Bedeutung der emotionalen Beteiligung. Deshalb ist es auch in der Psychotherapie so wichtig, dass Klient/innen nicht nur erzählen, was sie beschäftigt / erlebt haben etc. . Auch die dazu gehörenden Gefühle und Körperempfindungen müssen aktiviert sein – sonst tut sich im Gehirn wenig, d.h. es passieren keine neuen Verschaltungen.
Die emotionale Beteiligung ist also wichtig und – so ergänzt die Bindungsforschung – die emotionale Sicherheit. “Vor der Bildung, die derzeit überall hofiert wird, steht die Bindung”, so der Münchner Bindungsforscher Dr. Karl-Heinz Brisch. Nur wenn Kinder eine sichere emotionale Basis haben, können sie ihr Potential entfalten und Bildungsangebote auch nutzen. Emotionale Sicherheit erleben jüngere Kinder nur in Anwesenheit einer Bindungsperson. Viele moderne Kitas verstehen sich als Bildungshäuser. Das ist wunderbar – wenn das was sie tun auf den o.g. Erkenntnissen der Lernforschung basiert. Was dabei oft zu kurz kommt, das sind die Bindungsbedürfnisse der Kinder. Einen Erzieher/eine Erzieherin haben der/die in einer konzeptgeleiteten Eingewöhnungsphase besonders vertraut mit mir Kind (und meiner Familie) geworden ist und die Beziehung zu mir weiter vertieft; Zeit zum Kuscheln, auf dem Schoss sitzen, Erzählen und Lachen; Zeit,um die aktuelle Gefühlswelt eines Kindes in mir aufzunehmen und dem Kind Resonanzkörper zu sein; Zeit um wirklich in Ver-Bindung mit einem Kind zu gehen; Zeit … . Erzieher/innen haben allerdings bei einer Gruppengröße mit bis zu 25 Kindern und mit ca. 1,75 Fachkräfte pro Gruppe (Richtwerte für Rheinland Pfalz) auch wirklich keine günstigen Rahmenbedingungen für diese so wichtige Beziehungsarbeit. Das ist vielleicht nicht so schlimm für Kinder, die zuhause ausreichend emotionale Nähe und Körperkontakt erleben und die die Kindertageseinrichtung nur für wenige Stunden am Tag besuchen. Für Kinder, die ganztags betreut werden und/oder zuhause wenig emotionale Nahrung erhalten, kommt dieses Bedürfnis in den Einrichtungen häufig zu kurz. Auch die Elternarbeit kommt oft zu kurz. Dabei fühlen sich jüngere Kinder nur wirklich geborgen und sicher, wenn ihre verschiedenen Bezugspersonen und damit ihre unterschiedlichen Lebenswelten miteinander in Ver-Bindung sind.
Ausblick: Förderangebote kritisch betrachten, bedeutet nicht, sie zu verteufeln. Wie so oft geht es darum, “das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten”. Die Kita unseres Sohnes z.B. lässt viel Raum für freies Spiel. In diesen Freiraum streut sie wohl dosiert vielfältige Bildungsangebote, die die Kinder nutzen können, aber nicht müssen. Manche Bildungsangebote präsentieren sich ganz unaufdringlich – da wird einfach ein großes Behältnis mit Erbsen auf einem Tisch im Flur aufgebaut. Trichter, Becher und leere Flaschen laden zum Schütten, Umfüllen, Einfüllen … ein. Andere Angebote werden angekündigt: Der “Forscheropa” (ein Ingenieur und Sonderpädagoge im Ruhestand) ist da . Wer hat Lust, mit ihm mit Wasser, Strom, Luft … zu experimentieren? Jemand liest ein Bilderbuch vor. Wer möchte zuhören? Es besteht die Möglichkeit, eine bestimmte Basteltechnik auszuprobieren. Wer hat Lust? All das ist wunderbar. Kinder brauchen Impulse und Anregungen. Sofern sie damit nicht überfrachtet und dann schnell von äußerer Stimulation abhängig werden. Und sofern sie frei sind, teilzunehmen oder nicht.
Spannend finde ich, dass der Freiraum der Kita bis in unser Familienleben hineinwirkt. Vor allem in der Sommerjahreshälfte sind wir mit den Kindern häufig abends lange draußen. An der Mosel, auf Spielplätzen, an Badeseen, in schönen Biergärten, in der Natur … erleben wir wunderbare entspannte und schöne Familienzeiten. Wir kehren oft erst mit Einbruch der Dunkelheit zurück und entsprechend spät gehen die Kinder dann schlafen. Morgens schlafen wir aus, beginnen gemütlich unseren Tag und irgendwann geht Noel in die Kita. Dadurch, dass es in der Kita kein festes Programm gibt, an dem alle Kinder teilnehmen sollen, gibt es auch keine Notwendigkeit, dass die Kinder zu einer bestimmten Uhrzeit da sein sollen. Für diese Freiheit bin ich wirklich sehr dankbar. Auch wenn wir früh aufstehen, gibt es Tage, wo Noel erst mal zuhause spielen möchte. Schön, ihn dann selber regulieren lassen zu können, wo er gerade sein möchte – in kleinem Rahmen bei uns oder in der großen Kindergruppe. Er muss gar nicht in die Kita, wenn er nicht will. Das weiß er. Von dieser Freiheit hat er aber noch nie Gebrauch gemacht. Wie so oft bricht durch Freiheit eben nicht das Chaos aus: Noel geht gerne und eigentlich recht regelmäßig in seinen Kindergarten.
Empfehlenswerte Literatur zum Thema:
Die Bilder unter den Buchempfehlungen sind Amazon Links. Wenn Du über sie bestellst, erhalte ich eine kleine Prämie. Für Dich wird das Buch nicht teurer. Lieben Dank!
Bergmann, Wolfgang: Lasst eure Kinder in Ruhe! Gegen den Förderwahn in der Erziehung. 2011. München: Kösel-Verlag.
Hüther, Gerald & Nitsch, Cornelia: Wie aus Kindern glückliche Erwachsene werden. 2008. München: Gräfe und Unzer Verlag.
Juul, Jesper & Hoeg, Peter et al: Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht. 2012. Weinheim: Beltz-Verlag.
Liebe KaSu;
Vielen Dank für die wertvollen Informationen. Auch wenn Vieles mir bereits vertraut ist, so gerät doch regelmässig wieder Vieles in Vergessenheit. Aber auch Deine Art und Weise, die “Dinge” beim Namen zu nennen, berühren mich jedesmal und bereiten zugleich Freude beim Lesen. Zudem ermutigen Deine Worte mich, in Zukunft mich noch bewusster mit Erziehung und Bildung auseinanderzusetzen. Aber vor allem lehren sie mich zu schätzen, unseren Kindern auf dieser Ebene begegnen zu dürfen.
mit lieben Gedanken, patrick w.